Verdrängung
Über schwierige Erlebnisse und traumatische Erfahrungen zu sprechen, braucht Mut. Viele Betroffene haben ihre Vergangenheit verdrängt. Auch die Gesellschaft hat die Schicksale der unter Zwang weggesperrten und fremdplatzierten Menschen lange ignoriert. Die mittlerweile ins Rollen gekommene Aufarbeitung des Unrechts ist schmerzhaft – für die Betroffenen und für die Gesellschaft.
Das Ende des Schweigens
Bereits früh wurde Kritik an administrativ verfügten Fürsorgemassnahmen unter Zwang oder an Kindswegnahmen geübt. Doch das Echo war bescheiden, die Veränderungen waren es auch.
Fürsorgemassnahmen und Fremdplatzierungen waren Teil der Schweizer Sozial- und Familienpolitik. Sie basierten auf einem breiten Fächer gesetzlicher Bestimmungen und folgten einem gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnis. Dass dabei die Grenzen der Norm sehr eng gezogen und individuelle Bedürfnisse lange missachtet wurden, ist aus heutiger Perspektive schwer nachvollziehbar. ...
Späte gesellschaftspolitische Aufarbeitung
Nach mehreren Rückschlägen ist die Auseinandersetzung mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz in den Medien seit einigen Jahren präsent und wird von Politik, Gesellschaft, Kultur und Forschung thematisiert. Zentral dabei waren und sind die Stimmen der Betroffenen. Bestrebungen zur Aufarbeitung von vergangenem Unrecht gab es in anderen Ländern bereits früher, so etwa in Kanada, Australien, Deutschland, Österreich, Schweden, Norwegen oder Belgien.
Und alle machten mit – wirklich alle?
Fürsorgemassnahmen unter Zwang konnten so lange bestehen, weil sie von der Gesellschaft mitgetragen und von den Entscheidungsträgern und -trägerinnen gestützt wurden. Es gab aber immer auch kritische Stimmen. Eine davon war Carl Albert Loosli.
Ein früher und vehementer Kritiker von behördlichen Zwangsmassnahmen und Ungleichbehandlungen war der Bümplizer Dichter und Schriftsteller Carl Albert Loosli. Mit scharfer Feder schrieb er gegen solche Diskriminierungen und die «Administrativjustiz» an.
Wir sprechen in diesem Film
Das Ende des Schweigens
Bereits früh wurde Kritik an administrativ verfügten Fürsorgemassnahmen unter Zwang oder an Kindswegnahmen geübt. Doch das Echo war bescheiden, die Veränderungen waren es auch.
Fürsorgemassnahmen und Fremdplatzierungen waren Teil der Schweizer Sozial- und Familienpolitik. Sie basierten auf einem breiten Fächer gesetzlicher Bestimmungen und folgten einem gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnis. Dass dabei die Grenzen der Norm sehr eng gezogen und individuelle Bedürfnisse lange missachtet wurden, ist aus heutiger Perspektive schwer nachvollziehbar. ...
Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung
Betroffene sprechen häufig lange nicht über ihre Erlebnisse. Und wenn, dann meistens nur bruchstückhaft und im engsten Familien- und Freundeskreis. Viele haben aufgrund von Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang schmerzhafte und traumatische Erfahrungen gemacht. Aus Scham oder Angst vor erneuter Stigmatisierung verdrängen sie ihre Vergangenheit. Dahinter steckt der Wunsch, zu vergessen und das Erlebte hinter sich zu lassen.
Die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, erfordert Mut. Die Unterstützung durch Angehörige, Freunde oder professionelle Begleitung kann hilfreich sein. Die Suche nach Antworten über die eigene Herkunft oder die Gründe einer Fürsorgemassnahme führt oft zu den eigenen Akten. Die Konfrontation mit den behördlichen Akten erleben viele als Schockmoment: Nicht nur die abwertende Sprache der Behörden oder Psychiater, auch Diffamierungen oder Denunziationen aus dem Umfeld können sie aus der Bahn werfen.
Je mehr Betroffene mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit treten, desto mehr fühlen sich ermutigt, ihrem Beispiel zu folgen. Erst die so entstehende Sichtbarkeit ermöglicht eine öffentliche Diskussion über das von ihnen erlittene Unrecht.
Gesellschaftliche Aufarbeitung
In der Schweiz nahm die Öffentlichkeit das Schicksal fremdplatzierter und unter Zwang versorgter Menschen jahrzehntelang einfach hin. Schon früh gab es kritische Stimmen, darunter auch bekannte Persönlichkeiten wie Jeremias Gotthelf, Carl Albert Loosli oder Peter Surava. Doch zu mehr als zu einem kurzfristigen medialen Aufschrei bei drastischen Fällen von Missbrauch führte ihre Kritik nie. Die liberale und humanitäre Schweiz liess keine Diskussion über das Thema zu.
Erst in den 1970er-Jahren begann sich der gesellschaftliche Blick zu wandeln, und in den 1980er-Jahren wurde die Praxis des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» aufgearbeitet, was zu einer erstmaligen Entschuldigung durch den Bundesrat sowie Entschädigungszahlungen führte.
Als aber in den 1990er-Jahren verschiedene westliche Länder Initiativen zur historischen Aufarbeitung von Zwangsplatzierungen von Kindern lancierte, blieb es in der Schweiz still. Erst ab den 2000er-Jahren gelang es ehemaligen Betroffenen, sich mit Unterstützung von Vertreterinnen und Vertretern aus Medien, Wissenschaft, Politik und Kultur endlich Gehör zu verschaffen.
2010 und 2013 anerkannte die Schweizer Landesregierung das Leid, das den Betroffenen angetan wurde, und bat sie um Entschuldigung. Es folgten Vertreterinnen und Vertreter von Kantonen, Gemeinden sowie kirchlichen und privaten Organisationen. Zwischen 2014 bis 2019 untersuchte eine unabhängige Expertenkommission im Auftrag des Bundesrates die Praxis administrativer Versorgungen Die wissenschaftliche Aufarbeitung dauert im Rahmen eines nationalen Forschungsprogramms sowie durch Untersuchungen im Auftrag von Kantonen, Einrichtungen und Organisationen bis heute an.
Mit der Aufarbeitung stellt sich auch die Frage der Wiedergutmachung. Ein im April 2017 in Kraft getretenes Gesetz sieht unter anderem einen sogenannten Solidaritätsbeitrag von 25’000 Schweizer Franken pro betroffene Person vor. Bis Ende Dezember 2021 hatten über 10’000 Personen einen Antrag gestellt. Ob damit das begangene Unrecht wiedergutgemacht werden kann und wie die gesellschaftspolitische Aufarbeitung nachhaltig ausgestaltet werden soll – darüber gehen die Vorstellungen auseinander. Es kollidieren die Erwartungshaltungen von Politik und Behörden mit jenen der Betroffenen, die ihrerseits unterschiedliche Ansprüche an den Aufarbeitungs- und Wiedergutmachungsprozess stellen.