Häufige Fragen

Hier findest du Antworten auf die häufigsten Fragen.

Wer steht hinter der Onlineplattform «Gesichter der Erinnerung»?

Die Onlineplattform ist ein Projekt von Menschen, die fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erlebt haben, und von Historikerinnen und Historikern. Gemeinsam mit Filmschaffenden und Fachpersonen aus der Digitalisierung, aus der Kommunikation, aus der Geschichtsdidaktik sowie aus dem Archivbereich hat unser Team dieses multimediale Geschichtsvermittlungsprojekt umgesetzt.

Warum gibt es die Onlineplattform «Gesichter der Erinnerung»?

Obwohl sich schon manch andere Projekte (Filme, Ausstellungen, Forschung etc.) dem Thema fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen gewidmet haben, ist das Wissen über dieses wichtige Thema der Schweizer Sozialgeschichte noch immer zu wenig bekannt. Das wollen wir ändern.

Im Zentrum stehen die Erfahrungen von 32 Personen, die selbst von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren. Es kommen aber auch deren Partnerinnen, deren Kinder sowie Fachleute zu Wort. Sie erzählen, was geschehen ist, sie sprechen über die Folgen, die bis heute spürbar sind. Und sie erklären, wie sie trotz allem die Kraft gefunden haben, weiterzuleben – und wie es ihnen dabei ergangen ist.

Was war das Ziel von Fürsorgemassnahmen?

Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang waren für die Behörden sozialpolitische Instrumente, um gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen durchzusetzen. Besonders gefährdet, in den Fokus behördlicher Administrativmassnahmen zu geraten, waren Menschen in wirtschaftlich und sozial schwierigen Situationen und unverheiratete Mütter.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden präventive Eingriffe ausgehend vom neuen Zivilgesetzbuch (ZGB) möglich. In den darauffolgenden Jahrzehnten spielten auch eugenische Begründungen eine Rolle. Massgebliches Gewicht erhielt die Erziehung zur Arbeit durch Arbeit mit dem Argument, dass armutsbetroffene Personen die öffentliche Hand finanziell weniger belasten sollten. Armutsrisiken, die sich aus gesellschaftlichen Ungleichheiten ergeben hatten, wurden lange ignoriert. Erst mit dem Aufbau von Sozialwerken wie AHV (1948) oder IV wurde (1960) versucht, strukturelle Armutsrisiken zu reduzieren.

Wieso kam es zu Fremdplatzierungen und fürsorgerischen Massnahmen?

Die Gründe waren zahlreich. Lebte eine Person oder eine Familie nicht nach den geltenden Normen oder war auf Unterstützung angewiesen, wuchs das Risiko sogenannter Fürsorgemassnahmen unter Zwang. Ein bürgerliches Rollenverständnis zwang Männer und Frauen in ein enges moralisches Korsett.

Dazu kam, dass Sozialversicherungen wie die AHV (1948) und eine obligatorische Krankenversicherung (1996) in der Schweiz im internationalen Vergleich spät eingeführt wurden. So konnte ein Unfall, eine Krankheit oder ein Todesfall eines erwerbstätigen Elternteils dazu führen, dass die Familie auf behördliche Unterstützung angewiesen war.

Die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen, die administrative Einweisung in Anstalten, Heime, Psychiatrien und Strafanstalten, die Adoption unter Zwang, die unfreiwillige Sterilisation oder Kastration waren Teil der Schweizer Sozialpolitik. Daran zeigt sich deutlich: Der Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung war in vielen Fällen wichtiger als das Wohlergehen einzelner Menschen.

Wer war betroffen?

Mehrere 100’000 Menschen waren von Fürsorgemassnahmen unter Zwang betroffen, darunter vor allem Arme, Jenische, Suchtkranke, unverheiratete oder geschiedene Mütter und ihre Kinder, Waisen oder arbeitslose Männer. Jugendliche und Erwachsene, die die Behörden als «liederlich» oder «arbeitsscheu» einstuften, kamen ohne gerichtlichen Beschluss in eine «Arbeitsanstalt». In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nahmen die Behörden vermehrt Jugendliche ins Visier, die neue Freiheiten für sich einforderten. Viele von ihnen wurden ebenfalls administrativ (d. h. ohne gegen das Strafgesetz verstossen zu haben) versorgt.

In psychiatrischen Kliniken und Spitälern sterilisierten die Ärzte Frauen und kastrierten Männer, um zu verhindern, dass sie Nachkommen haben würden. Andere Patienten und Patientinnen, teilweise auch Angestellte, wurden, ohne es zu wissen, für Versuche mit noch nicht zugelassenen Medikamenten missbraucht.

Wie wurden fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vorgenommen?

Das kantonale Verwaltungsrecht und das eidgenössische Zivil- und Strafrecht waren die Grundlagen für behördliche Administrativentscheide. Für die Umsetzung waren die Kantone zuständig, die Finanzierung lag bis 1978 vielerorts bei den Heimatgemeinden. Jeder Kanton erliess eigene Gesetze und Verfahrenswege. Immer wieder kam es auch ohne behördlichen Entscheid zu Fürsorgemassnahmen, vor allem bei Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen.

Die Gesetze schützten die individuellen Freiheitsrechte der Betroffenen ungenügend und eröffneten den Behörden bei ihren Entscheidungen grosse Handlungsspielräume. Neben staatlichen Stellen waren private und religiöse Organisationen massgeblich an der Umsetzung beteiligt. Viele Betroffene erlebten Gewalt und Missbrauch. Faire Verfahren waren nicht gewährleistet. Amtsvormunde betreuten oft mehr als 200 Mündel und waren damit überlastet. Das verstärkte bei den Betroffenen das Gefühl, lediglich verwaltet zu werden.

Wie viele Einrichtungen gab es in der Schweiz?

In der Schweiz entstand im 19. und 20. Jahrhundert eine vielfältige «Heimlandschaft». Mehr als 1‘000 Einrichtungen von unterschiedlicher Grösse und Funktion waren über die ganze Schweiz verteilt. Ihre Bezeichnungen wandelten sich im Verlauf der Jahrzehnte und widerspiegelten damit den jeweiligen Zeitgeist. Es gab zum Beispiel sogenannte Armen- und Waisenanstalten, Trinkerheilstätten, Kinder- und Jugendheime, Erziehungsanstalten, Mutter-Kind-Heime, psychiatrische Einrichtungen oder Zwangsarbeitsanstalten.

Als Träger dieser Einrichtungen traten sowohl staatliche Stellen als auch nicht staatliche Vereine oder religiöse Organisationen auf.

Weil staatliche, private und kirchliche Akteurinnen und Akteure eng zusammenarbeiteten, wurden Kinder, Frauen und Männer auch zwischen den verschiedenen Einrichtungen und Landesteilen hin und her geschoben.

Gab es kritische Stimmen gegen die Praxis der Fremdplatzierungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen?

In der Schweiz nahm die Öffentlichkeit das Schicksal fremdplatzierter und unter Zwang versorgter Menschen jahrzehntelang einfach hin beziehungsweise unterstützte diese Praxis auch bei Volksabstimmungen.

Schon früh gab es kritische Stimmen, darunter bekannte Persönlichkeiten wie Jeremias Gotthelf (Schriftsteller/Pfarrer, 1797–1854), Carl Albert Loosli (Schriftsteller/Journalist, 1877–1959), Peter Surava (Journalist, 1912–1995) oder Marie Meierhofer (Kinderärztin, 1909–1998). Doch zu mehr als einem kurzfristigen medialen Aufschrei führte ihre Kritik nie. Die «liberale und humanitäre Schweiz» liess keine Diskussion über das Thema zu.

Erst in den 1970er-Jahren begann sich der gesellschaftliche Blick zu wandeln. So kritisierte die sogenannte Heimkampagne zu Beginn der 1970er-Jahre die autoritäre Heimerziehung scharf. Es wurden dringend benötigte, grundsätzliche Reformen im Heimwesen gefordert und umgesetzt. 1972 wurde die Praxis des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute in der Zeitschrift «Beobachter» angeprangert und fand schliesslich ein Ende.

Wie lange ist das her?

Unter dem Begriff «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen» werden verschiedene Massnahmen zusammengefasst. Diese wurden nie verboten.

Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Heimen nahmen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen ab. Doch erst 1978 wurde eine gesamtschweizerische Bewilligungs- und Aufsichtspflicht eingeführt.

Mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1974 musste die Schweiz faire Verfahren bei administrativen Einweisungen gewährleisten. 1981 traten alle kantonalen «Versorgungsgesetze» ausser Kraft. Noch heute aber sind Einweisungen etwa in psychiatrische Kliniken auf administrativem Weg möglich («fürsorgerische Unterbringung»).

Die Berichte von Betroffenen zeigen, dass trotz grundlegender Veränderungen in diesem Bereich Erfahrungen von Gewalt, Integritätsverletzungen und mangelnde Vorbereitung auf ein autonomes Leben bis heute aktuell sind.

Wie steht es um die Aufarbeitung in Politik und Gesellschaft?

Eine erste Aufarbeitung fand in den 1980er-Jahren zur Praxis des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute statt und führte zu einer erstmaligen Entschuldigung durch den Bundesrat sowie zu Entschädigungszahlungen.

Doch als in den 1990er-Jahren die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht in anderen Ländern in Gang gesetzt wurde, etwa in Kanada, Australien, Deutschland, Österreich, Schweden, Norwegen oder Belgien, blieb die Schweiz still.

Nach mehreren Rückschlägen ist die Auseinandersetzung mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen seit der Jahrtausendwende in der Schweiz in den Medien präsent und wird von Politik, Gesellschaft, Kultur und Forschung thematisiert. Zentral dabei sind die Stimmen der Betroffenen. Entschuldigungen und Gedenkanlässe wurden seit 2010 auf Bundesebene und in verschiedenen Kantonen organisiert und durchgeführt. An manchen Orten erinnern Mahnmale an die Schicksale der Betroffenen.

Auf Gesuch können Opfer den sogenannten Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25‘000 Franken beantragen. Es stehen weitere Forderungen seitens der Forschung und von Betroffenen im Raum – insbesondere zur Verbesserung der Lebenssituation heute –, die nach wie vor der Umsetzung harren.