Autoritäten

Der Entscheid, Fürsorgemassnahmen in die Wege zu leiten, lag bei staatlichen Stellen. Diese konnten sie an private und kirchliche Organisationen delegieren, was Kosten einsparte. Individuelle Bedürfnisse standen lange nicht im Vordergrund. Bisweilen wurden Familien über Generationen hinweg verwaltet.

© Verein Gesichter der Erinnerung, 2022

Der Handlungsspielraum Einzelner war gross

Die Verfahrenswege für behördliche Fürsorgemassnahmen waren nicht einheitlich geregelt. Die Handlungsspielräume behördlicher, privater und kirchlicher Akteurinnen und Akteure waren gross.

Wer sich nicht anpasste oder floh, riskierte seine Versetzung, die Verlängerung von Massnahmen oder den Eingriff in die Familienplanung. Genügend Informationen über die Verfahren, mögliche Rechtsmittel und die Dauer einer Massnahme erhielten Betroffene und ihre Familien selten. Gegen Entscheide von Behörden vorzugehen, war sehr schwierig. ...

Die Macht der Akten

Der Blick in die Akten zeigt, wie Menschen beurteilt wurden. Die nicht selten negativen Zuschreibungen bestimmten Biografien und förderten die Stigmatisierung zusätzlich.

Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus einer Personenakte. Der Knabe Alois Kappeler wird im Schreiben des «Seraphischen Liebeswerks» Solothurn in abwertender Weise beschrieben. Unter anderem steht dort: «Schlechte Erbmasse, frühkindliche Verwahrlosung oder Imbezillität».

Das Seraphische Liebeswerk Solothurn platzierte katholische Kinder und Jugendliche, vermittelte Adoptionen, kontrollierte Pflege- und Heimplätze und führte selbst Einrichtungen. Alois Kappeler war an über 30 Orten platziert. Der Auszug aus einem Schreiben an die Fürsorgekommission macht die Negativbewertungen in seinen Akten sichtbar (1967). Es stehen dort Zuschreibungen wie «schlechte Erbmasse», «frühkindliche Verwahrlosung» oder «Imbezilität».

Abwertende Beschreibungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen finden sich in vielen Akten. Sie stammen von so unterschiedlichen Personengruppen wie Beamten, Geistlichen, Psychiatern, Fürsorgerinnen und Mitarbeitenden privater und kirchlicher Organisationen. Stigmatisierende Zuschreibungen hatten Einfluss auf nachfolgende Beurteilungen und erhielten grosses Gewicht. Die sogenannten Aktenbiografien widerspiegeln die Sicht der damaligen Autoritäten und hatten oft nichts mit dem eigenen Erleben zu tun.

Wer bezahlte das alles?

Die Kosten für eine Fremdplatzierung oder Unterbringung in einer Einrichtung trugen nach Möglichkeit die Betroffenen oder ihr familiäres Umfeld selbst (Subsidiaritätsprinzip). In vielen Fällen wurden kostengünstige Lösungen gewählt, die jedoch den Bedürfnissen der Betroffenen oft zuwiderliefen.

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