Platzlosigkeit

Aus Sicht der Behörden hatten fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen fast immer eine Vorgeschichte, die sie zum Eingreifen berechtigte. Die Gründe waren mannigfaltig und kamen für die Betroffenen oft unvorbereitet. Nicht immer verbesserte sich danach ihre Lebenssituation.

© Gesichter der Erinnerung, 2022

An den Rand gedrängt

Ziel der Massnahmen war die Bekämpfung der Armut und nichtkonformer Lebensweisen.

Lebte eine Person oder eine Familie nicht nach den geltenden Normen oder war auf Unterstützung angewiesen, wuchs das Risiko sogenannter Fürsorgemassnahmen unter Zwang. Die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen, die administrative Einweisung in «Anstalten», Heime, Psychiatrien und Strafanstalten, die Adoption unter Zwang, die unfreiwillige Sterilisation oder Kastration waren Teil der Schweizer Sozialpolitik. An einigen Betroffenen wurden ungefragt Medikamente getestet. Der Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung war in vielen Fällen wichtiger als das Wohlergehen einzelner Menschen. ...

Das Gesetz im Rücken

Viele Fürsorgemassnahmen waren durch Gesetze des Bundes und der Kantone legitimiert.

Abbildung Abstimmungsinserat mit dem Slogan «Wer gesund ist, soll arbeiten! – Ja zum Zwangsversorgungsgesetz», gezeichnet von Arbeitsame Bürger.

Volksblatt aus dem Bezirk Affoltern (1925)

1925 stimmte das Zürcher Stimmvolk - ausschliesslich Männer - zum zweiten Mal über ein kantonales Versorgungsgesetz ab. Das «Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern» erlaubte die administrative Internierung zur «sittlichen Erziehung» und zur Arbeitserziehung. Damit konnten Menschen ab 12 Jahren für bis zu 2 Jahre in eine Anstalt eingewiesen werden, ohne eine Straftat begangen zu haben. Die Vorlage war umstritten, wurde aber mit einer deutlichen Mehrheit angenommen. Das Gesetz blieb bis 1981 in Kraft.

Es müssen Hunderttausende sein

Wir kennen dank umfangreicher Statistiken den Immobilienbestand, die Entwicklung der Temperaturen oder die genaue Zahl der Ziegen in der Schweiz. Die genaue Zahl derer, die von Zwangsmassnahmen betroffen waren, werden wir jedoch nie erfahren.

Tabelle zur Entwicklung der Anzahl Ziegen im Kanton Graubünden seit 1866. Die Angaben sind auf die Zeige genau, zum Beispiel 1866: 375'482 Ziegen oder 1966 74'707 und 2003 67'412 Ziegen.

Anzahl Ziegen im Kanton Graubünden seit 1866, Bauernzeitung (2006)

Verlässliche Zahlen dazu, wie viele Menschen in der Schweiz von Fürsorgemassnahmen unter Zwang betroffen waren, wurden nie zentral erhoben – eine Rekonstruktion ist nicht möglich. Schätzungen gehen von mehreren 100'000 direkt betroffenen Personen im 19. und 20. Jahrhundert aus. Mehrere Zehntausend leben heute noch.

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