Platzlosigkeit
Aus Sicht der Behörden hatten fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen fast immer eine Vorgeschichte, die sie zum Eingreifen berechtigte. Die Gründe waren mannigfaltig und kamen für die Betroffenen oft unvorbereitet. Nicht immer verbesserte sich danach ihre Lebenssituation.
An den Rand gedrängt
Ziel der Massnahmen war die Bekämpfung der Armut und nichtkonformer Lebensweisen.
Lebte eine Person oder eine Familie nicht nach den geltenden Normen oder war auf Unterstützung angewiesen, wuchs das Risiko sogenannter Fürsorgemassnahmen unter Zwang. Die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen, die administrative Einweisung in «Anstalten», Heime, Psychiatrien und Strafanstalten, die Adoption unter Zwang, die unfreiwillige Sterilisation oder Kastration waren Teil der Schweizer Sozialpolitik. An einigen Betroffenen wurden ungefragt Medikamente getestet. Der Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung war in vielen Fällen wichtiger als das Wohlergehen einzelner Menschen. ...
Das Gesetz im Rücken
Viele Fürsorgemassnahmen waren durch Gesetze des Bundes und der Kantone legitimiert.
1925 stimmte das Zürcher Stimmvolk - ausschliesslich Männer - zum zweiten Mal über ein kantonales Versorgungsgesetz ab. Das «Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern» erlaubte die administrative Internierung zur «sittlichen Erziehung» und zur Arbeitserziehung. Damit konnten Menschen ab 12 Jahren für bis zu 2 Jahre in eine Anstalt eingewiesen werden, ohne eine Straftat begangen zu haben. Die Vorlage war umstritten, wurde aber mit einer deutlichen Mehrheit angenommen. Das Gesetz blieb bis 1981 in Kraft.
Es müssen Hunderttausende sein
Wir kennen dank umfangreicher Statistiken den Immobilienbestand, die Entwicklung der Temperaturen oder die genaue Zahl der Ziegen in der Schweiz. Die genaue Zahl derer, die von Zwangsmassnahmen betroffen waren, werden wir jedoch nie erfahren.
Verlässliche Zahlen dazu, wie viele Menschen in der Schweiz von Fürsorgemassnahmen unter Zwang betroffen waren, wurden nie zentral erhoben – eine Rekonstruktion ist nicht möglich. Schätzungen gehen von mehreren 100'000 direkt betroffenen Personen im 19. und 20. Jahrhundert aus. Mehrere Zehntausend leben heute noch.
Wir sprechen in diesem Film
An den Rand gedrängt
Ziel der Massnahmen war die Bekämpfung von Armut und nicht konformen Lebensweisen.
Lebte eine Person oder eine Familie nicht nach den geltenden Normen oder war auf Unterstützung angewiesen, wuchs das Risiko sogenannter Fürsorgemassnahmen unter Zwang. Die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen, die administrative Einweisung in «Anstalten», Heime, Psychiatrien und Strafanstalten, die Adoption unter Zwang, die unfreiwillige Sterilisation oder Kastration waren Teil der Schweizer Sozialpolitik. An einigen Betroffenen wurden ungefragt Medikamente getestet. Der Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung war in vielen Fällen wichtiger als das Wohlergehen einzelner Menschen. ...
Ursachen und Ziele von Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang
Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang waren für die Behörden sozialpolitische Instrumente, um gegen Armut und ihre gesellschaftlichen Folgen vorzugehen. In der Schweiz verschärften sich ab dem frühen 19. Jahrhundert die Repressionen gegenüber Menschen und Familien, die auf Unterstützung angewiesen waren. Die Kantone reagierten auf die Zunahme von Unterstützungsbedürftigen mit neuen armenpolizeilichen Mitteln. Sie konnten armutsbetroffene Familien auflösen und Kinder und Erwachsene als billige Arbeitskräfte bei Bauern fremdplatzieren oder in Einrichtungen versorgen.
Neben dem ökonomischen Motiv der Armutsbekämpfung schwangen bei Fremdplatzierungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen immer auch moralische Beweggründe mit. Die Eingriffe waren demnach Instrumente zur Herstellung und Durchsetzung von gesellschaftlicher Konformität: Kinder, Jugendliche und Erwachsene wurden fremdplatziert, weil ihre Lebensweisen nicht den Normen und Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft entsprachen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts überlagerten sich ökonomische und moralische Motive zunehmend, Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang wurden vermehrt präventiv angeordnet. Verschiedene Lebensstile, die vom bürgerlichen Ideal abwichen, wurden zur Zielscheibe der Behörden. Ihre Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte der Betroffenen legitimierten sie wahlweise mit der finanziellen Entlastung der öffentlichen Haushalte, mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung oder der Erziehung der Betroffenen.
Vielfältige Massnahmen ‒ und wer davon betroffen war
Hinter den Fürsorgemassnahmen unter Zwang verbirgt sich eine vielfältige behördliche Praxis, die sich je nach Kanton unterschied und sich im Verlauf der Zeit weiterentwickelte. Dazu zählen Fremdplatzierungen und Adoptionen unter Zwang, besonders oft von Kindern unverheirateter Mütter. Jugendliche und Erwachsene, die den Behörden als «liederlich» oder «arbeitsscheu» galten, kamen ohne gerichtlichen Beschluss in eine «Arbeits-» oder «Erziehungsanstalt». In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nahmen die Behörden vermehrt Jugendliche ins Visier, die neue Freiheiten für sich einforderten. In psychiatrischen Kliniken und Spitälern wurden Frauen sterilisiert und Männer kastriert, um zu verhindern, dass sie Nachkommen haben würden. Andere wurden, ohne es zu wissen, für Versuche mit noch nicht zugelassenen Medikamenten missbraucht.
Mehrere 100’000 Menschen waren von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen, darunter vor allem Arme, Jenische, Suchtkranke, unverheiratete oder geschiedene Mütter und ihre Kinder, Waisen, arbeitslose Männer oder aufmüpfige Jugendliche. Dies macht zwei sozialpolitische Motive sichtbar: die Bekämpfung der Armut und die Herstellung von gesellschaftlicher Konformität. Ab den 1970er-Jahren wurden Reformbestrebungen sichtbar. In Wechselwirkung mit wirtschaftlichen Veränderungen führte der Anspruch, Menschen- und Grundrechte für die gesamte Bevölkerung zu gewährleisten, zu einem allmählichen Rückgang der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. In der aktuellen Diskussion wird das Jahr 1981 oft als Wendepunkt für die beschriebene Praxis genannt. Erfahrungen von Betroffenen verweisen indes auf partielle Kontinuitäten bis in die jüngste Vergangenheit.