Gewalt & Missbrauch
Geschlossene Einrichtungen und abgeschiedene Pflegeplätze, ungenügende Kontrolle und Aufsicht: Dies alles begünstigte Gewalt und Missbrauch in einer Gesellschaft, die individuellen Lebensweisen lange Zeit wenig Raum bot.
Ausgeliefert und missbraucht
Psychische, physische und sexuelle Gewalt gehörte für viele Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zum Alltag.
Körperliche Züchtigung war in der Erziehung von Minderjährigen lange verbreitet und ist in der Schweiz auch heute noch nicht ausdrücklich verboten. Wohl gab es bereits früh Ansätze für ein gewaltfreies Aufwachsen: Einzelpersonen oder Medien griffen Missbrauchsfälle immer wieder auf, doch oft wurden am Ende die Täter und Täterinnen geschützt und die Opfer für die erlebte Gewalt selbst verantwortlich gemacht. Aufsicht und Kontrolle, wenn sie denn bestanden, versagten. ...
Sexuelle Gewalt vor Gericht – ein seltener Fall
Im luzernischen Bad Knutwil standen in den 1940er-Jahren Ordensbrüder der dortigen «Erziehungsanstalt für Schwererziehbare» vor Gericht. Ihnen wurde vorgeworfen, Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. Sie waren allerdings bei Weitem nicht die einzigen Täter dieser Art, doch unter den wenigen, die sich deswegen vor Gericht verantworten mussten.
Die Berichte über systematische sexuelle Gewalt an Jugendlichen in der «Erziehungsanstalt für Schwererziehbare» in Bad Knutwil durch Ordensbrüder und Pfarrer in den 1940er-Jahren blieben nicht die einzigen. Auch in den darauffolgenden Jahren bis zum Rückzug der Ordensbrüder von La Salle im Jahr 1973 sind Missbräuche bekannt – und mindestens ein damit zusammenhängender Suizid. ...
Die Kritik wird immer lauter
Die Kritik an der Vernachlässigung und Gewalt während Heimaufenthalten und bei Fremdplatzierungen fand lange wenig Gehör. Die «Heimkampagne» zu Beginn der 1970er-Jahre steht für den damals einsetzenden Reformwillen.
Die Schweizer Tageszeitung «Blick» widmete sich Mitte 1970 in einer zweiteiligen Serie der Frage, wieso Jugendliche aus der Erziehungsanstalt «Tessenberg» im Kanton Bern flüchteten. Bereits in früheren Jahrzehnten wurden kritische Berichte veröffentlicht. Sie führten jedoch zu keinen grundlegenden Reformen. Vor dem «Blick» berichteten 1970 bereits die Zeitschriften «Sie + Er», «Beobachter» und «Team» kritisch über die Zustände in Schweizer Erziehungsheimen. Diese mediale Kritik an einer autoritären Heimerziehung wurde unter dem Namen «Heimkampagne» bekannt und ist Ausdruck für die damalige Dringlichkeit und Forderung grundsätzlicher Reformen im Heimwesen, die auch im Schweizer Fernsehen gezeigt wurde.
Wir sprechen in diesem Film
Ausgeliefert und missbraucht
Psychische, physische und sexuelle Gewalt gehörte für viele Betroffene von Zwangsmassnahmen zum Alltag.
Körperliche Züchtigung war in der Erziehung von Minderjährigen lange verbreitet und ist in der Schweiz auch heute noch nicht ausdrückllich verboten. Wohl gab es bereits früh Ansätze für ein gewaltfreies Aufwachsen: Einzelpersonen oder Medien griffen Missbrauchsfälle immer wieder auf, doch oft wurden am Ende die Täter und Täterinnen geschützt und die Opfer für die erlebte Gewalt selbst verantwortlich gemacht. Aufsicht und Kontrolle, wenn sie denn bestanden, versagten. ...
Institutionalisierte Gewalt
In Heimen und Einrichtungen war physische und psychische Gewalt bis in die Nachkriegszeit ein Instrument der Erziehung und Disziplinierung. Die erlaubte Strafpraxis war hier häufig in Reglementen oder Hausordnungen festgelegt. Eine in vielen Heimen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert verbreitete Strafe war beispielsweise die «Kostschmälerung», also die Reduktion der Essensration. Fluchtversuche wurden oft mit brutaler Prügel, einer Verlängerung der Internierungszeit und einer Kahlrasur als sichtbares Zeichen geahndet. Diese Praxis änderte sich erst im Verlauf der 1970er-Jahre.
In vielen Einrichtungen kam es zusätzlich zu Formen von Gewalt, die bisweilen an Folter grenzten. Internierte wurden auch verbal erniedrigt und Bettnässer und Bettnässerinnen in Badewannen mit eiskaltem Wasser gesteckt. Es sind zudem zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch belegt.
Die vielen Berichte über Willkür und Missbrauch machen deutlich, dass es sich nicht um einzelne Verfehlungen handelte. Begünstigt wurden sie durch ungenügende Kontrollstrukturen sowie mangelnde personelle und finanzielle Ressourcen. Weil die Strukturen grosse Handlungsspielräume eröffneten, oblag dem Anstaltspersonal enorme Verantwortung. Nicht wenige missbrauchten ihre Machtposition. Darunter fallen auch Medikamentenversuche ohne Einwilligung, die besonders umfangreich durch den Direktor der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen durchgeführt wurden – trotz bereits bestehender ethischer Grundsätze für die medizinische Forschung.
Zur selben Zeit aber machten andere Betroffene in ihren Einrichtungen und Pflegefamilien positive Erfahrungen, erlebten Unterstützung durch Aufsichtspersonen, die sie auch für ihr weiteres Leben stärkten.
Missbräuche und ihre Folgen
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war in der Schweiz Kritik an der verbreiteten Gewalt und den Missbräuchen in Anstalten und Heimen aufgekommen. Ab Mitte der 1920er-Jahre trat der Berner Schriftsteller Carl Albert Loosli (1877–1959), der als Jugendlicher selber in verschiedenen Heimen aufgewachsen war, als scharfer Kritiker der «Administrativjustiz» im «Verding-» und Heimwesen auf. Und in den 1930er- und 1940er-Jahren rüttelten mehrere journalistische Reportagen über die Lebensbedingungen in Luzerner Heimen oder die mit dem Tod endende Misshandlung eines Berner «Verdingbuben» die Öffentlichkeit auf. Doch erst ab den 1970er-Jahren und im Zuge der sogenannten Heimkampagne kam es zu grundlegenden Reformen im Heimwesen. Ende der 1970er-Jahre wurde die Aufsicht und Kontrolle für Pflegeverhältnisse erstmals auf nationaler Ebene geregelt.
Aufgrund der strukturellen Missstände sowie der fehlenden gesellschaftlichen Sensibilisierung hatten Täter und Täterinnen lange Zeit kaum etwas zu befürchten. Sie wurden bestenfalls ermahnt oder versetzt und nur in Einzelfällen entlassen. Juristisch belangt wurden sie praktisch nie. Vorgesetzte schützten sie, und bei Untersuchungen wurde die Glaubwürdigkeit der als «moralisch» oder «psychisch defekt» erachteten Opfer regelmässig in Zweifel gezogen. Aus Angst, dass einer Aussage kein Glauben geschenkt würde, aus Scham oder weil sie unter Druck gesetzt wurden, schwiegen viele Opfer von Misshandlungen und sexueller Gewalt teilweise für Jahrzehnte.
Dem Umstand, dass diese Opfer oft erst nach langer Zeit über die erlittenen Traumata sprechen können, trägt die Gesetzgebung in der Schweiz heute Rechnung: Sexueller Missbrauch verjährt nicht mehr.
Sexuelle Gewalt vor Gericht – ein seltener Fall
Im luzernischen Bad Knutwil standen in den 1940er-Jahren Ordensbrüder der dortigen «Erziehungsanstalt für Schwererziehbare» vor Gericht. Ihnen wurde vorgeworfen, Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. Sie waren allerdings bei Weitem nicht die einzigen Täter dieser Art, doch unter den wenigen, die sich deswegen vor Gericht verantworten mussten.
Die Berichte über systematische sexuelle Gewalt an Jugendlichen in der «Erziehungsanstalt für Schwererziehbare» in Bad Knutwil durch Ordensbrüder und Pfarrer in den 1940er-Jahren blieben nicht die einzigen. Auch in den darauffolgenden Jahren bis zum Rückzug der Ordensbrüder von La Salle im Jahr 1973 sind Missbräuche bekannt – und mindestens ein damit zusammenhängender Suizid. ...
Gewalt und sexueller Missbrauch in Knutwil
Die «Erziehungsanstalt St. Georg Wilihof» wurde 1926 in einem ehemaligen Kurhaus in Knutwil im Kanton Luzern eröffnet. Sie bezweckte die «Erziehung schwer erziehbarer, sittlich gefährdeter oder durch die Behörden zu versorgender Knaben» im Alter von 12 bis 18 Jahren. Geführt wurde sie von den Schulbrüdern Jean-Baptiste de La Salle (Frères des écoles chrétiennes). Dieser katholische Männerorden war 1684 in Frankreich gegründet worden und seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Schweiz aktiv. Die «Erziehungsanstalt» in Knutwil, in der hauptsächlich Brüder des deutschen Ordenszweigs arbeiteten, war eine von zwei Niederlassungen in der Deutschschweiz.
Anfang der 1930er-Jahre berichtete die kommunistische Tageszeitung «Basler Vorwärts» erstmals von «barbarischen» Erziehungsmethoden, Gewalt und Hunger in der Knutwiler «Erziehungsanstalt». Auslöser war der Tod eines in der «Anstalt» untergebrachten Knaben. Der Anstaltsdirektor bestritt die Vorwürfe und sprach von «infamen Verleumdungen». Unterstützung erhielt er von der katholischen Presse, die eine ideologisch motivierte «Gottlosenpropaganda» witterte und die Glaubwürdigkeit der Opfer in Zweifel zog.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg berichteten zwei Jugendliche von sexuellen Übergriffen in Knutwil. Auch ihre Aussagen wurden im Zuge der darauffolgenden Abklärungen in Zweifel gezogen. Gleichwohl kam es zu einer Strafanzeige. 1947 mussten sich zwei Schulbrüder wegen «sehr schwerer sittlichen Vergehen» vor dem Gericht in Luzern verantworten. Dass es zu einer Strafanzeige kam, hatte vor allem politische Gründe: Kirchliche und kantonale Stellen wollten der Öffentlichkeit zeigen, dass sie ihre Aufsichtspflichten ernst nahmen und bei Missbrauchsvorwürfen einschritten. Doch daran gab es zu diesem Zeitpunkt berechtigte Zweifel, denn nur dank Medienberichten waren wenige Monate zuvor die unmenschlichen Lebensbedingungen im Erziehungsheim «Sonnenberg» bei Kriens (LU) bekannt geworden, was zur Schliessung dieses Heims führte. Mit der Strafanzeige gegen die zwei Knutwiler Ordensbrüder sollte die Öffentlichkeit beruhigt und ein zweiter Fall «Sonnenberg» vermieden werden.
Knutwiler Ordensleute vor Gericht – sexuelle Missbräuche gehen weiter
Vor Gericht bekannte sich einer der Knutwiler Ordensbrüder schuldig. Er kam mit einer geringen Strafe davon, weil das Gericht das damals für sexuellen Missbrauch bereits tiefe Strafmass bei weitem nicht ausschöpfte. Der zweite Ordensmann bestritt dagegen alle Vorwürfe, und weil das Gericht den Aussagen der Jugendlichen keinen Glauben schenkte, wurde er mangels Beweisen freigesprochen.
Ob die beiden Ordensleute nach dem Gerichtsurteil weiter in der Knutwiler «Erziehungsanstalt» tätig waren, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass der sexuelle Missbrauch in Knutwil nach 1947 nicht aufhörte. So berichteten zwei Betroffene, die ab Ende der 1960er-Jahren mehrere Jahre in Knutwil verbrachten, dass jüngere «Zöglinge» systematisch sexuell missbraucht wurden. Eines der damaligen Opfer nahm sich noch in Knutwil das Leben. Jüngst anerkannte die Fachkommission «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» in einem Schreiben an einen Betroffenen den sexuellen Missbrauch. Wie die damaligen Aufsichtsbehörden auf die Missbrauchsfälle in Knutwil reagierten, bleibt unklar. Ein Opfer erinnert sich an Befragungen. In den Protokollen des Kriminalgerichts des Kantons Luzern gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass es in der Folge zu einem Strafprozess kam.
Spätestens seit dem Gerichtsurteil von 1947 wussten die kantonalen Behörden von sexuellen Missbräuchen in Knutwil. Mit den Jugendschutzkommissionen gab es seit 1942 eine Aufsichtsbehörde für fremdplatzierte Kinder, und die «Erziehungsanstalt» in Knutwil wurde regelmässig von kirchlichen Organen überprüft. Dennoch missbrauchten katholische Ordensbrüder auch in den folgenden Jahren Knaben in Knutwil sexuell – weil die Aufsichtsmechanismen systematisch versagten, die Aussagen der Opfer nicht erst genommen und bekannte Missbräuche als Verfehlungen Einzelner ausgeblendet und verdrängt wurden.