Gesundheitliche Folgen
Die medizinische Versorgung der von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen Betroffenen war lange Zeit unzureichend. Auch die strenge körperliche Arbeit und Misshandlungen zeigten im Verlauf des Lebens ihre Wirkung. Nicht alle Betroffenen erreichten ein hohes Alter; manche wurden krankheitsbedingt verfrüht aus dem Leben gerissen, andere begingen Suizid. Der Entscheid fürs Leben war oft ein bewusster Schritt.
Die Gesundheit hat gelitten
Die Folgen von körperlicher Ausbeutung, medizinischer Vernachlässigung und traumatischen Erlebnissen sind mitunter existenziell.
Ungenügende medizinische Versorgung, mangelhafte Ernährung und Unterbringung bei gleichzeitig schwerer körperlicher Arbeit führten bei vielen Betroffenen zu körperlichen Langzeitschäden. Gewalt und Missbrauch lösten Traumata aus. Lange Zeit wurden den körperlichen und psychischen Auswirkungen von Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang wenig Beachtung geschenkt. ...
Gefühlsstürme kommen immer wieder
Der Begriff des psychischen Traumas ist seit den 1980er-Jahren in der Psychologie und Psychiatrie anerkannt. Psychische Traumata können so gravierend sein wie schwere körperliche Verletzungen. Bei bleibenden psychischen Leiden aufgrund eines früheren Traumas handelt es sich um posttraumatische Belastungsstörungen. Die Forschung vergleicht diese mit jenen von Kriegserfahrenen.
Den Schmerz sichtbar machen
Künstlerische Ausdrucksformen machen Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch sichtbar. Sie können dem Unaussprechbaren Gestalt geben.
«Das Bild passt zum Thema Spätschäden», sagt Gabriela Pereira. Die Bieler Künstlerin benennt die zerstörende und anhaltende Wirkung individueller und systematischer Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen in ihrer Kunst sowie in ihrem politischen Engagement. Sie kämpft dafür, dass Überlebende jeden Alters heute würdevoll leben können, ohne erneut administrative Zwangsmassnahmen erfahren zu müssen.
Wir sprechen in diesem Film
Die Gesundheit hat gelitten
Die Folgen von körperlicher Ausbeutung, medizinischer Vernachlässigung und traumatischen Erlebnissen sind mitunter existenziell.
Ungenügende medizinische Versorgung, mangelhafte Ernährung und Unterbringung bei gleichzeitig schwerer körperlicher Arbeit führten bei vielen Betroffenen zu körperlichen Langzeitschäden. Gewalt und Missbrauch lösten Traumata aus. Lange Zeit wurde den körperlichen und psychischen Auswirkungen von Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang wenig Beachtung geschenkt. ...
Mangelhafte medizinische Versorgung und Betreuung
Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung mit den Erwartungen von heute nicht vergleichbar. Die Behandlungsmöglichkeiten und die Verfügbarkeit von Medikamenten haben sich in den vergangenen 100 Jahren enorm verändert. Personen, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren, waren gesundheitlichen Risiken noch stärker ausgesetzt. Wer in Einrichtungen, Heimen oder bei Familien platziert war, wurde lange Zeit medizinisch meist nur mangelhaft versorgt. Finanzielle Überlegungen verhinderten immer wieder notwendige Behandlungen im Krankheitsfall oder bei Unfällen, auch wenn einzelne Organisationen schon früh einen Versicherungsschutz der von ihnen betreuten Personen anstrebten.
Vielerorts wurde zudem der Zugang zu ärztlicher Versorgung bewusst eingeschränkt. In gewissen Einrichtungen mussten Betroffene für eine Arztkonsultation ein Gesuch an die Leitung stellen. Die häufig einseitige Ernährung sowie infrastrukturelle Mängel in den Einrichtungen, etwa in Form nicht beheizter Schlafsäle oder nasser Betten aufgrund undichter Fenster, führte vor allem bei Kindern und Jugendlichen nicht selten zu chronischen Gesundheitsbeschwerden.
Forderungen nach einer gesunden Ernährung und besseren medizinischen Versorgung fremdplatzierter Menschen waren schon früh aufgekommen. Verbindliche Vorschriften und Kontrollen liessen auf sich warten. Erst 1978 wurde beispielsweise die Versicherung von Pflegekindern gegen Krankheits- und Unfallrisiken schweizweit obligatorisch.
Der medizinische Fortschritt wirkte sich nicht immer zum Vorteil der Betroffenen aus: Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts wachsende Bedeutung der psychiatrischen Diagnostik war lange ein bewertendes Mittel, und auch medizinische oder heilpädagogische Beurteilungen gewannen Einfluss auf die Entscheide zur Anordnung oder Aufhebung einer Fürsorgemassnahme oder Fremdplatzierung. Dabei zeigten sich vielerorts Beharrungstendenzen in eugenischen Denkmustern und in der Suche nach defizitären Merkmalen der beurteilten Personen. Ab den 1950er-Jahren fanden Psychopharmaka Anwendung, die mitunter zur Ruhigstellung internierter Personen eingesetzt wurden. Dabei kam es auch zu Versuchen mit Medikamenten, die noch nicht zugelassen waren – und dies ohne die Einwilligung der Betroffenen.
Gesundheitliche Langzeitfolgen
Viele Menschen leiden als Folge ihrer Fremdplatzierung und Fürsorgemassnahmen unter Zwang bis heute unter gesundheitlichen Problemen. Sie mussten teilweise bereits im Kindesalter körperlich schwere Arbeit leisten, waren überlastet und bekamen beispielsweise chronische Rückenschmerzen. Bei anderen wurden Verletzungen und Knochenbrüche nicht richtig behandelt, was sich oftmals erst Jahrzehnte später auswirkte.
Neben körperlichen Spätfolgen leiden viele Menschen auch unter den psychischen Folgen von traumatischen Erfahrungen, die sie im Rahmen der Fürsorgemassnahmen unter Zwang gemacht haben. Bestimmte Gerüche, Stimmen oder Worte können als Auslöser wirken und traumatische Situationen oder Wunden selbst nach Jahrzehnten der Verdrängung schlagartig aufbrechen lassen. Auch Albträume belasten ihr Leben. Die Forschung vergleicht diese posttraumatischen Belastungsstörungen von Betroffenen mit den Auswirkungen von Kriegserfahrungen und verweist auf messbare Auswirkungen im Gehirn und in den Zellen. Traumatische Erfahrungen in jungen Jahren können zu vorzeitigen Alterungsprozessen führen.
Depressionen und Angststörungen verunmöglichen bisweilen eine regelmässige Erwerbsarbeit, was die Betroffenen in die Armut führen kann und staatliche Unterstützung nötig macht. Die Auswirkungen belasten zudem die Beziehungen und das familiäre Umfeld der Betroffenen. Die Folgen der erlittenen Traumata können sich so über Generationen hinweg auswirken.