Die Menschen hinter den Geschichten
MarieLies Birchler
Zu diesen Themen spricht MarieLies Birchler:MarieLies Birchler
«Manchmal fehlen mir die Worte.»
MarieLies Birchler wurde 1950 als erstes Kind von fünf Geschwistern in Zürich geboren. 1951 brachte sie die Behörde mit ihrem jüngeren Bruder Hanspeter ins Waisenhaus der Heimatgemeinde Einsiedeln (SZ). Die beiden Kinder waren unterernährt, krank und vernachlässigt. In diesem Waisenhaus begann MarieLies Birchlers elfjähriges Martyrium der Gewalt und Angst unter dem Regime der Ingenbohler Ordensschwestern.
Als Bettnässerin und mit ihrer aufgeweckten Art hatte sie es besonders schwer. Sie wurde unter Wasser getaucht, aufs Schlimmste verprügelt, über Tage im Estrich eingesperrt. Blossstellungen, Demütigungen, Beschimpfungen und der Vorwurf, vom Teufel besessen zu sein, dominierten ihren Alltag. Als MarieLies Birchler älter wurde, begann sie, sich zu wehren, bis sie mit 13 Jahren von ihrem Vormund abgeholt und ins Erziehungsheim «Burg» in Rebstein (SG) gebracht wurde. Dort ging es ihr besser. Erstmals Vertrauen zu einer Erzieherin aufbauen konnte sie jedoch erst im Erziehungsheim «Waldburg» in St. Gallen, wohin sie 1968 kam.
Mit 20 Jahren wurde MarieLies Birchler aus der Vormundschaft entlassen. Sie bildete sich zur Psychiatriepflegefachfrau aus und arbeitete später in leitenden Funktionen. 1978 suizidierte sich ihr Bruder Hanspeter, ein schwerer Schlag für die junge Frau. Über ihre Kindheit schwieg MarieLies Birchler mehrheitlich, bis ihre zahlreichen Traumatisierungen sie einholten und krank machten. Sie erlitt mehrere Zusammenbrüche, konnte nicht mehr arbeiten und musste IV beantragen.
Als es ihr wieder besser ging, unterstützte sie Familien mit ihren Kindern und führt diese Arbeit bis heute fort. MarieLies Birchler engagiert sich zudem seit einigen Jahren für die Aufarbeitung des Themas fürsorgerische Zwangsmassnahmen. Sie tut dies für all jene, die nicht oder nicht mehr für sich selbst sprechen können. Sie ist Teil des Projektteams «Gesichter der Erinnerung».
Uschi Waser
Zu diesen Themen spricht Uschi Waser:Uschi Waser
«Bis zu jenem Tag als ich meine Akten las, war mein Leben gut.»
Uschi Waser kam 1952 im Kanton Zürich zur Welt. Ihre Mutter war zum Zeitpunkt der Geburt nicht verheiratet. Aufgrund ihrer jenischen Abstammung kam Uschi Waser unter Vormundschaft und wurde fremdplatziert. In den ersten 13 Jahren ihres Lebens wurde sie an 26 verschiedenen Orten platziert. Nach jahrelangem Missbrauch durch den Stiefvater, wurde Uschi Waser in der Nacht auf ihren 14. Geburtstag von ihrem Onkel vergewaltigt und in der Folge in das katholische Erziehungsheim «Zum Guten Hirten» in Altstätten im Kanton St. Gallen administrativ versorgt.
Nach ihrer Entlassung gründete Uschi Waser eine Familie und sorgte nach ihrer Scheidung alleine für ihre Töchter. Als sie Einsicht in ihre Akten nahm, erfuhr sie, dass in den Gerichtsprozessen gegen ihren Onkel und ihren Stiefvater Beurteilungen aus ihren Vormundschaftsakten nur zu ihren Ungunsten ausgelegt worden waren. Ihr Leben war nach der Akteneinsicht nicht mehr dasselbe.
Uschi Waser engagiert sie sich seit vielen Jahren für die Aufarbeitung administrativer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen sowie für die Aufarbeitung der Rolle der Justiz in diesem Zusammenhang. Sie war Vertreterin der Opfer der Pro Juventute am «Runden Tisch für die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» (2013–2018) und präsidiert seit den 1990er-Jahren die Stiftung «Naschet Jenische». 2022 erhielt Uschi Waser den Somazzi-Preis; er wird jährlich an Frauen oder Frauengruppen verliehen, die sich für Bildung, Frauenrechte und Frieden einsetzen.
Christian Tschannen
Zu diesen Themen spricht Christian Tschannen:Christian Tschannen
«Sie sagten uns: 'Ihr seid nichts, ihr könnt nichts, aus euch wird nichts!'»
Christian Tschannen kam 1971 im Kanton Solothurn zur Welt. Nach der Scheidung der Eltern schaltete sich das Sozialamt ein und in der Folge stimmt die Mutter einer temporären Fremdplatzierung ihrer Kinder zu. Christian und sein älterer Bruder, Benjamin, wurden nach Schangnau (BE) auf einen Bauernhof ins Oberemmental verbracht, wo sie hart arbeiten mussten, in einer schlecht beheizten Kammer lebten, geschlagen und missbraucht wurden. Mit knapp neun Jahren zeigten sich bei Christian erste Symptome einer rheumatischen Erkrankung, die ihm mehr und mehr Schmerzen bereiteten.
Im Alter von 15 Jahren wurde Christian 1986 ins «Jugenddorf» in Bad Knutwil (LU) umplatziert, wo er zu einer Schreinerlehre gezwungen wurde, die er abbrach. Auch im «Jugenddorf» erlebte er Gewalt, und im letzten Jahr wurden ihm medizinische Versorgung und Medikamente verweigert. 1989 wurde Christian entlassen und absolvierte eine Autolackiererlehre. Aufgrund seiner Erkrankung und physischen Schädigungen wurde er für eine Umschulung bei der IV angemeldet. Sein Anliegen, eine Ausbildung absolvieren zu können, die seinem Gesundheitszustand und seinen Fähigkeiten Rechnung trug, wurde von der IV nicht gehört.
Mit 24 Jahren orientiere sich Christian beruflich neu und studierte Kunst an der Hochschule für Gestaltung in Luzern. Er war unter anderem Artist in Residence der Stiftung Pro Helvetia in Cape Town und stellte mehrfach im In- und Ausland aus. Seine Arbeit änderte sich 2014, mit den ersten Behördenunterlagen radikal und beleuchtet Themen des aktuellen Zeitgeschehens. Christian engagiert sich in der Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und möchte den Blick auch auf heutige Problemfelder der Kinder- und Jugendhilfe richten.
Gabriela Pereira
Zu diesen Themen spricht Gabriela Pereira:Gabriela Pereira
«Wir Kinder wurden staatenlos gemacht und unsere Familie auseinandergerissen.»
Gabriela Pereira kam 1964 im aargauischen Wohlen zur Welt. Ihre Mutter stammte aus Portugal, ihr Vater war Schweizer. Die Eltern hatten vor, zu heiraten. Dennoch wurde Gabriela Pereira im Alter von 18 Monaten in einem Waisenhaus versorgt, das von Menzinger Ordensschwestern geleitet wurde. Bis Gabriela Pereira 17 Jahre alt war, folgten eine Pflegefamilie sowie in drei katholische Anstalten. Während ihrer Zeit im evangelischen «Heim für Schwererziehbare» in Freienstein (ZH) wurde sie wie viele andere Heimkinder in den Ferien an Bauern verdingt. An allen Orten erlebte Gabriela Pereira Gewalt und mehrfach sexuellen Missbrauch.
Als Gabriela Pereiras Vater 1967 starb, verwehrten die Sozialbehörden ihrer Mutter den Zugang zum Erbe und zu Geld, das er für die Kinder als Sicherheit hinterlegt hatte. Weil Gabriela Pereira und ihr Bruder staatenlos gemacht worden waren und ihnen die finanziellen Mittel fehlten, war eine Ausreise nach Portugal nicht möglich. Erst als Jugendliche wurde ihr der Schweizer Pass zugestanden. Nur dank ihrer Mutter, die es immer wieder schaffte, ihre Tochter zurück nach Hause zu bringen und die schlimmen Erfahrungen mit Humor in Geschichten zu packen, konnte Gabriela Pereira sich ihre innere Lebendigkeit bis heute erhalten.
Nach dem Tod ihrer Mutter (2003) intensivierte Gabriela Pereira ihre persönliche Aufarbeitung und engagierte sich politisch. «Solange Überlebende mit den Folgen von Traumatisierungen allein gelassen werden, kaum finanzielle Mittel haben, um gesundheitliche Folgeschäden erträglicher zu machen und weiterhin administrativen Zwangsmassnahmen ausgesetzt sind, solange ist es für die Überlebenden keine Aufarbeitung», so Gabriela Pereira.
Anton Aebischer
Zu diesen Themen spricht Anton Aebischer:Anton Aebischer
«Dieses Lächeln hat mich geschützt und durchs Leben geführt; es zeigt nicht, wie viel unsägliches Leid sich aufgrund der damaligen Behördenwillkür dahinter verbirgt!»
Geboren: 21. Juli 1948, Aarau
Heimatort: Guggisberg (BE)
Ich habe es geschafft und bin ein selbstständiger Mensch, Bürger dieses Staates, «Heimatlands», («Anstaltslandschaft»)! Ich habe nichts vom Staat bekommen. Alles habe ich selber erarbeiten müssen. Im Gegenteil: Der Staat hat mir einen verdammt harten Start ins Leben bereitet! Die Jugend wurde mir in den Heimen gestohlen. Mit verleumderischen «Gutachten», (Oberziel, St. Gallen), die auch heute noch schmerzen, mit geistigen Trennungen von der übrigen, «normalen» Gesellschaft, von damaligen sogenannten Experten, Koryphäen!
Aus der Armee bin ich «unter bester Verdankung der geleisteten Dienste» als Gefreiter mit Offiziersfunktion im letzten Dienst entlassen worden! Mit zusätzlichen freiwilligen Diensten in der Armee, ohne Anrechnung, habe ich zudem dem Staat noch gedient! Klar habe ich verschiedene berufliche Stellen, auch mit längerer Dauer, gehabt, wo ich aus wirtschaftlichen Gründen entlassen wurde. Ich habe die Gelegenheit genutzt, mich in die Pensionskasse mit dreistelligem Betrag einzukaufen, sodass ich heute nicht von diesem Staat abhängig bin, im Gegensatz zu vielen. Ich bin voller Steuerzahler! Ich muss niemandem Danke sagen!
Christina Tomczyk
Zu diesen Themen spricht Christina Tomczyk:Christina Tomczyk
«Mein Vater ist mein Held und ein Vorbild für mich.»
Christina Tomczyk kam 1974 in Basel zur Welt. Nach der Trennung ihrer Eltern lebte sie zunächst bei ihrer Mutter, bis sie als Teenager zu ihrem Vater, Peter Bönzli, zog. Vater und Tochter verband von Anfang an ein starkes Band, und er unterstützte sie in all ihren privaten und beruflichen Ambitionen. 1993 erreichte Christina Tomczyk das Finale der Miss-Schweiz-Wahl. Ein Jahr später gab sie ihr Debüt als Rennfahrerin in der Schweizer Kart-Meisterschaft.
Christina ist mit Martin Tomczyk verheiratet. Das Paar hat zwei Kinder. Nach der Geburt ihrer Kinder stellte Christina Tomczyk vermehrt Fragen zur Kindheit ihres Vaters. Sie wusste lediglich, dass der Vater ihres Vaters früh gestorben war und dass ihr Vater und seine Geschwister deshalb in Heimen aufgewachsen waren. Die Erzählungen ihres Vaters waren bis dahin nur bruchstückhaft gewesen. Doch nicht zuletzt, weil das Thema in die öffentliche Diskussion gerückt war, sprach die Familie nun immer mehr über Vergangenes.
Zusammen mit ihrem Vater, mit ihrem Onkel und einer Tante besuchte Christina Tomczyk vor einigen Jahren die Berner Heime, in denen diese als Kinder versorgt waren. Sie schlug ihrem Vater vor, an die Öffentlichkeit zu gehen, um über seine Erfahrungen zu sprechen. Auch um zu zeigen, dass er trotz schlimmer Erfahrungen in der Kindheit seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft gefunden hat. Und dass er die Erfahrung von Vernachlässigung, fehlender Zuneigung, Gewalt und mangelnder Schulbildung nicht an die nächste Generation weitergegeben hat.
Peter Bönzli
Zu diesen Themen spricht Peter Bönzli:Peter Bönzli
«Ich hatte im Leben immer wieder Menschen, die mich förderten und forderten.»
Peter Bönzli kam 1947 in Bern zur Welt. Nach dem Tod seines Vaters verlor seine Mutter die elterliche Gewalt über ihre vier Kinder. Eines Tages holten Peter Bönzli zwei Männer beim Spielen von der Strasse weg und brachten ihn in ein Übergangsheim. Mit fünf Jahren wurde er in die Knabenerziehungsanstalt «Brünnen» in Bümpliz versorgt.
Das erste Jahr verbrachte er mit den Söhnen des Heimleiters und genoss viele Freiheiten, doch diese hatten mit der Einschulung ein Ende: Fortan stand die Arbeit im Vordergrund, und für die Schule blieb wenig Zeit. Sein jüngerer Bruder Kurt war im selben Heim platziert. Gemeinsam warteten sie einmal im Monat auf den Besuch ihrer Mutter – oft vergebens. Ihre Schwestern, die im angrenzenden Mädchenheim untergebracht waren, sahen die beiden Brüder manchmal über den Zaun hinweg.
Nach Beendigung der Schulzeit wurden die Knaben aus «Brünnen» auf verschiedene Arbeitsstellen verteilt. Peter Bönzli kam zu einem Posthalter in die französische Schweiz. Nach einem Jahr zog er zu seiner Mutter nach Basel. Eine Schnupperlehre als Laborant musste er nach einem Arbeitsunfall 1964 abbrechen. Danach begann er eine Ausbildung zum Kaufmann, die ihm aufgrund der mangelhaften Schulbildung im Heim schwerfiel. Sein beruflicher Werdegang führte ihn über verschiedene Stellen als Verkäufer in die Unternehmungsberatung. 1992 gründete Peter Bönzli seine eigene Firma, die er 2004 verkaufte und in den vorzeitigen Ruhestand trat.
Tanja Meier*
Zu diesen Themen spricht Tanja Meier*:Tanja Meier*
«Bereits meine Mutter und meine Grossmutter wuchsen nicht zu Hause auf.»
Tanja Meier kam 1965 im Zürcher Oberland zur Welt. Die Mutter war bei der Geburt ihres ersten Kindes, des Bruders von Tanja Meier, erst 18 Jahre alt und nicht verheiratet. Ein Jahr später folgte die Geburt der Tochter. Tanja Meiers Vater stammte aus Sardinien. Mit elf Monaten wurde sie in einer Pflegefamilie, die Mitglied einer pietistischen Freikirche war, platziert und blieb dort, bis sie 25 Jahre alt war. Ihr Bruder wurde von einem Ort zum anderen geschoben.
Im Vergleich zur Kindheit ihres Bruders habe sie es gut gehabt, sagt Tanja Meier. Doch ihre Pflegemutter liess ihre Aggressionen an ihr aus und wertete Tanjas Mutter und Grossmutter immer wieder ab. Das beeinflusste das Mädchen: Sie wollte nicht so werden wie ihre Mutter. Tanja Meier und ihr Bruder waren nicht die Ersten ihrer Familie, die nicht zuhause aufwachsen konnten – bereits ihre Mutter, deren Geschwister sowie ihre Grossmutter waren nach dem Tod eines Elternteils fremdplatziert worden. Ihren leiblichen Vater sah Tanja Meier nur an den Besuchssonntagen. Dabei wurde er übergriffig, und als sie ihn nicht mehr besuchen wollte, drohte ihr der Vormund mit der Versetzung in ein Kinderheim.
Als Tanja Meier mit 16 Jahren einen psychischen Zusammenbruch erlitt, lehnten die Pflegeeltern die Unterstützung durch den Schulpsychologischen Dienst ab. Erst 2017 erfuhr Tanja Meier, weshalb es ihr auch in den Jahrzehnten danach gesundheitlich immer wieder schlecht ging: Sie leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Als Erwachsene erlebte Tanja Meier auch in ihrer Ehe psychische Gewalt. Der Vater ihrer Tochter versuchte unter anderem, ihr das Kind zu entziehen. Nach einem erneuten Zusammenbruch im Jahr 2004 brachte sie 2007 die Kraft auf, die Ehe zu verlassen und zusammen mit ihrer Tochter ein neues Leben aufzubauen.
*Der Name wurde durch ein Pseudonym ersetzt.
Beni Freudiger
Zu diesen Themen spricht Beni Freudiger:Beni Freudiger
«Ich hatte es gut im Heim.»
Beni Freudiger kam 1958 im Kanton Solothurn zur Welt. Als seine Mutter krank wurde, kam er im Sommer 1960, zusammen mit seinem älteren Bruder in das Kinderheim «Marianum» in Menzingen (ZG). Seine Mutter und sein Vater, die getrennt voneinander lebten, kamen manchmal zu Besuch. Bei seinem Eintritt war Beni Freudiger der Jüngste. Er blieb 15 Jahre im Heim, bis dieses 1975 geschlossen wurde.
Beni Freudiger hatte es gut im «Marianum» und wurde von Menzinger Ordensschwestern liebevoll betreut. Eine der Schwestern mochte er besonders und sie ihn.
Die Schwester Oberin, die nach der Schliessung des Marianums das Kinderheim Klösterli in Wettingen (AG) leitete, fand immer wieder Wege, um den Kindern spezielle Erlebnisse zu ermöglichen. So war zum Beispiel Weihnachten ein Fest der Freude und der Weg ins Geschenkezimmer jeweils mit Kerzen beleuchtet. Die rund 60 Kinder hatten einen geregelten Tagesablauf und erfüllten neben der Schule einzelne Ämtchen. Es blieb jedoch immer genügend Freizeit; Beni Freudiger zum Beispiel hatte einen eigenen kleinen Garten, in dem er Gemüse anbaute.
Die Schwester Oberin vermittelte Beni Freudiger eine gute kaufmännische Lehrstelle. Nach einem Auslandaufenthalt in England bewarb er sich in einem Treuhandbüro und liess sich später zum Buchhalter ausbilden. Beni Freudiger ist heute Vater von drei erwachsenen Kindern. Trotz der guten Betreuung im Kinderheim lernte Beni Freudiger kein Familienleben kennen, bis er selbst Vater wurde. Diese Erfahrung fehlte ihm später.
Beni Freudiger ist seit seiner Scheidung viel unterwegs und bereist die ganze Welt. Er hält den Kontakt zu einer Schwester, die heute im Mutterhaus des Schwesternordens in Menzingen lebt. Die vorwiegend negative Medienberichterstattung über Erfahrungen in Kinderheimen veranlasste ihn, seine Geschichte öffentlich zu machen. Beni Freudiger ist es wichtig, zu zeigen, dass es auch andere, gute Erfahrungen in Fremdpflege gab und dass eine liebevolle Betreuung auch früher möglich war.
Claude Richstein
Zu diesen Themen spricht Claude Richstein:Claude Richstein
«Bis ich zwölf war, lebte ich an einem guten Pflegeplatz. Der Horror begann erst danach.»
Claude Richstein wurde 1961 geboren. Seine Eltern konnten ihn nicht bei sich behalten. Er kam in ein Kinderheim und von dort zu einer Berner Pflegefamilie, die bereits einen Pflegeknaben aufgenommen hatte. Hier verbrachte Claude Richstein seine ersten Jahre in einer liebvollen Umgebung. Seine Pflegeeltern wollten ihn adoptieren, doch seine leibliche Mutter gab ihre Einwilligung dazu nicht.
Im Alter von zwölf Jahren wurde Claude Richstein von seinem Vormund an einen neuen Pflegeplatz im Kanton Wallis gebracht, da seine Pflegeeltern die Kosten für ihn nicht weiter übernehmen wollten. Nach einem Jahr wurde er erneut umplatziert, weil ihm sein Vormund vorgeworfen hatte, Zigaretten gestohlen zu haben, was aber nicht stimmte. Im neuen Heim im aargauischen Aarwangen, wo das Arbeiten einen grossen Teil seines Alltags einnahm, blieb Claude Richstein die nächsten vier Jahre. Im Alter von 16 Jahren kam er ins «Pestalozziheim» in Birr (AG). Hier erlebte er während drei Monaten massive Gewalt unter der Internierten; ein Horror für den Jugendlichen.
Nach seiner Entlassung wohnte Claude Richstein mit seinem älteren Pflegebruder in einer Wohngemeinschaft, bis er 20 Jahre alt war. Dieser war für ihn eine wichtige Bezugsperson und eine Stütze auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben, auf das er nicht vorbereitet war. Claude Richstein hat in seinem Leben viele spannende Jobs gehabt und mit 60 Jahren noch einmal eine Spitextausbildung begonnen.
Er ist dankbar, dass es ihm gesundheitlich gut geht und dass er in seinem Leben viele Menschen getroffen hat, die ihn geliebt haben. Er versucht, etwas davon an Menschen, die heute auf Unterstützung angewiesen sind, weiterzugeben. Seine Kraft schöpft Claude Richstein aus dem Glauben; er hat ihm geholfen, das Erlebte zu akzeptieren und weiterzumachen.
Karin Gurtner
Zu diesen Themen spricht Karin Gurtner:Karin Gurtner
«Ich habe Konflikte nach Möglichkeit nie mit Gewalt gelöst.»
Karin Gurtner kam 1959 in Basel zur Welt. Ihre Mutter war damals sehr jung und unverheiratet. Ihre Grosseltern waren offiziell von der Vormundschaftsbehörde bis 1965 als Pflegeeltern eingesetzt worden. Sie liebten das Mädchen und gaben ihr das Fundament, das ihr ein Leben lang Halt geben würde. Mit ihrem Grossvater verbrachte sie viele Stunden im Wald, beobachtete und erlernte den Respekt vor jeder Lebensform.
Als ihre Mutter geheiratet hatte, entriss sie Karin Gurtner 1963 Knall auf Fall ihren Grosseltern. Das Mädchen hätte alles dafür gegeben, bei ihnen bleiben zu können, denn die Besuche ihrer Mutter waren stets von Gefühlskälte und Distanz gekennzeichnet gewesen. Im Alter von elf Jahren wurde Karin Gurtner in das Töchterinstitut «Steig» (SH) versorgt. 1975 folgten innerhalb weniger Monate fünf Platzierungen, inklusive eines Aufenthalts im Gefängnis und anschliessend in der psychiatrischen Klinik Breitenau (SH), weil die Behörden nicht wussten, wohin sie die Jugendliche sonst bringen sollten.
Zu Jahresende 1975 wurde sie in die Erziehungsanstalt «Lärchenheim» in Lutzenberg (AR) administrativ versorgt. Hier waren die Hierarchien untereinander stark ausgeprägt. Karin Gurtner gewann Einfluss, nutzte diesen aber nie zu ihrem Vorteil aus, sondern schaffte es, andere Jugendliche zu unterstützen.
Karin Gurtner liess sich nicht in die bürgerlichen Geschlechterrollen drängen. Sie wollte ihren eigenen Weg gehen und machte eine Anlehre in Electronic-Design. Später liess sie sich zur Kosmetikerin und Visagistin ausbilden und eröffnete ein eigenes Geschäft. Ihre Mutter liess sie auch als Erwachsene nicht in Ruhe und sorgte dafür, dass die Kunden und Kundinnen ausblieben. Auch beim Erbe ging der Familienstreit weiter, wobei Karin Gurtner beschuldigt wurde, das Erbe ihrer Grossmutter geplündert zu haben, obwohl sie keinen Zugang darauf hatte.
Karin Gurtner ist eine Kämpferin. Sie schöpft ihre Kraft aus dem Lebensbaum Yggdrasil und aus einem Motto der alten, nordischen Götter: «Aufstehen und weiterkämpfen!»
Robert Blaser
Zu diesen Themen spricht Robert Blaser:Robert Blaser
«Bei mir betrifft es drei Generationen.»
Robert Blaser kam 1957 in Zollikofen (BE) zur Welt. Um die Familie durchzubringen, mussten beide Eltern arbeiten, sodass die Kinder oft auf sich alleine gestellt waren. 1962 stellten die Behörden die Mutter vor die unmögliche Wahl: entweder nicht mehr zu arbeiten oder Fremdplatzierung der Kinder. Die Geschwister wurden auseinandergerissen und fremdplatziert. Die nächsten zehn Jahre verbrachte Robert Blaser im Kinderheim Landorf in Köniz (BE). Er musste sich rasch in die Rangordnung unter den Knaben einordnen und nutzte diese später auch zu seinen Gunsten.
Robert Blaser war von klein auf technikaffin, doch bei der Berufswahl gab es kein entsprechendes Angebot. Weil er nach der Entlassung mit 18 Jahren keiner geregelten Arbeit nachging, wurde er von seinem Vormund im Rahmen einer sogenannten Vorsorgemassnahme für zwei Jahre in die «Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain» (TG) administrativ versorgt. Auch nach seinem 20. Lebensjahr blieb Robert Blaser unter Schutzaufsicht.
Bereits Roberts Blasers Vater war in früheren Jahren administrativ versorgt gewesen, und auch seine erste Frau war nicht zu Hause aufgewachsen. Als sie schwanger wurde, wollte das junge Paar heiraten, erhielt aber die Erlaubnis nicht. Eines Tages wurde Robert Blasers Freundin weggebracht, und er wusste lange nicht, wo sie war. Das Kind wurde der jungen Mutter kurz nach der Geburt weggenommen; es dauerte zwei Jahre, bis die Eltern es wieder bei sich hatten.
Seine Technikfaszination brachte Robert Blaser später in den Bereich der Wärmedämmung. Er hält ein Patent für ein Minergie-Element, das beim Hausbau benutzt wird. Robert Blaser engagiert sich heute für die Anliegen von Betroffenen und leitet den Verein «Fremdplatziert». Zusammen mit seiner Partnerin Brigitta Bühler unterstützte er über 100 Personen bei der Eingabe für einen Beitrag aus dem Solidaritätsfonds.
Alois Kappeler
Zu diesen Themen spricht Alois Kappeler:Alois Kappeler
«Es war kein schönes Leben.»
Alois Kappeler kam 1953 in Galgenen im Kanton Schwyz als 13. von 14 Kindern zur Welt. Zwei Tage nach seiner Geburt wurde er seinen jenischen Eltern, die in Wohnwagen lebten, weggenommen und in ein Kinderheim des «Seraphischen Liebeswerks» in Solothurn verbracht. In den folgenden 18 Jahren wurde Alois Kappeler immer wieder umplatziert – insgesamt waren es weit über 20 Einrichtungen und Pflegeplätze. Immer wieder erfuhr er dort körperliche und sexuelle Gewalt.
Als Alois Kappeler volljährig war, wollte er aus der Vormundschaft entlassen werden, aber sein Vormund stellte sich dagegen. Mit Anfang 20 verliess er eines Tages seine Arbeitsstelle und versteckte sich acht Jahre lang auf einer Bündner Alp. Als er einen Unfall hatte, bei dem er sich schwere Kopfverletzungen zuzog, erfuhr sein Vormund, wo er sich aufhielt.
Alois Kappeler wurde in die Psychiatrische Klinik St. Urban (LU) eingeliefert, vier Jahre später kam er in die Psychiatrische Klinik Beverin (GR). Dort sollte er gegen seinen Willen kastriert werden, weil ihm ein übermässiger Sexualtrieb zugeschrieben wurde. In diesem Zusammenhang verletzte er einen Wärter und wurde in die Strafanstalt Realta (GR) gebracht. Der Journalist Hans Caprez vom «Beobachter» sorgte für seine Entlassung und machte seine Geschichte publik.
1994 lernte Alois Kappeler über ein Inserat in der Zeitschrift «Tierwelt» seine Ehefrau Eva kennen. Sie wurde seine wichtigste Stütze. Er zog zunächst zu ihr nach Davos, später zogen sie gemeinsam nach Wiesen, einer Ortschaft innerhalb des Gemeindegebiets von Davos. Als Alois Kappeler bei der Gemeinde um Arbeit nachfragte, stand einen Tag später ein Behördenvertreter vor der Tür: Das Ehepaar wurde unter Beiratschaft gestellt. Mit juristischer Unterstützung konnten sie sich erst 2004, also 6 Jahre später, davon befreien.
Julia Meier*
Zu diesen Themen spricht Julia Meier*:Julia Meier*
«Beziehungen auf Augenhöhe und mit Respekt sind mir wichtig, und sie sind möglich.»
Julia Meier* kam 2001 zur Welt. Ihre Mutter ist in der Schweiz bei einer Pflegefamilie aufgewachsen, ihr Vater stammt aus Kuba. Bei der Trennung ihrer Eltern war Julia Meier fünf Jahre alt. Davor hatte sie die Beziehungsprobleme ihrer Eltern miterlebt: Wenn sie sich stritten, war das Mädchen in ihrem Zimmer und hörte alles mit. Bis Julia Meier zehn Jahre alt war, besuchte sie ihren Vater regelmässig. Dann brach das Mädchen den Kontakt ab, weil ihr Vater sie immer wieder stark unter Druck gesetzt hatte und nie mit ihr zufrieden war.
Die ersten Jahre nach der Trennung der Eltern waren für Julia Meier nicht einfach. Sie ist Legasthenikerin, und ihre schulischen Leistungen hingen stark von ihrem Wohlbefinden ab. Es dauerte eine Zeit, bis die Mutter nach ihrem Zusammenbruch, der zur Trennung von Julias Vater geführt hatte, und nach der späteren Scheidung wieder genügend Kraft und Kapazität hatte, auf die Bedürfnisse ihrer Tochter einzugehen. In dieser Zeit war für Julia Meier professionelle psychologische Unterstützung durch Fachpersonen wichtig. In den darauffolgenden Jahren fanden Mutter und Tochter einen gemeinsamen Weg, und Julia Meier konnte ihre eigenen Bedürfnisse immer besser ausdrücken. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist heute ein gutes und enges. Die Erfahrungen in ihrer Familie, die über die Generationen hinweg reichen, können sie und ihre Mutter heute gemeinsam besprechen.
*Der Name wurde durch ein Pseudonym ersetzt.
Michele Delfino
Zu diesen Themen spricht Michele Delfino:Michele Delfino
«Weil ich weiss, was mein Vater erlebt hat, verstehe ich heute vieles besser.»
Michele Delfino wurde 1993 in Zürich geboren. Er wuchs bei seinen Eltern, Katharina und Mario Delfino, auf. Diese arbeiteten gemeinsam als Hauswarte, zuerst in einem Kirchengemeindehaus und danach in einem Schulhaus. In den ersten Jahren war die Familienwohnung im selben Gebäude, so dass Michele Delfino sehr viel Zeit mit seinen Eltern verbringen konnte. Gleichzeitig waren für ihn die vielen Räume und Plätze ein idealer Spielplatz und Ort für Entdeckungen. Die Familie ist ihm wichtig. Seine Eltern haben ihm die besten Voraussetzungen für den Start ins Leben gegeben. Er versucht, seine Möglichkeiten zu nutzen, gerade auch, weil sein Vater keinen guten Start ins Leben hatte.
Von klein auf wusste Michele Delfino, dass sein Vater nicht zuhause aufgewachsen ist. Dieser erzählte ihm immer wieder einzelne Erlebnisse, etwa über seine Fluchten. Später besuchte die Familie Delfino gemeinsam das Kinderheim in Altdorf (UR), das »Heim für Schwererziehbare Bad Knutwil» (LU) und den ehemaligen Wohnort der Adoptiveltern in Thalwil (ZH).
Michele Delfino ahnte, dass sein Vater zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle seine Erlebnisse mit seiner Familie teilen konnte. Als sie vor wenigen Jahren auch über die sexuelle Gewalt, die sein Vater erlebt hatte, sprechen konnten, half dies seinem Sohn, frühere Reaktionen seines Vaters einzuordnen und besser zu verstehen. Die Dinge, die seinem Vater zugestossen sind, wirken nach und haben Einfluss auf die nächste Generation. Auch deshalb ist es Michele Delfino wichtig, dass darüber gesprochen wird.
Eva Kappeler
Zu diesen Themen spricht Eva Kappeler:Eva Kappeler
«Fondue und Raclette kannte er nicht – das hatte es in den Heimen nie gegeben.»
Eva Kappeler wurde 1954 in Davos geboren. Sie wuchs mit sieben Geschwistern in einer liebevollen Familie auf. Ihr erster Ehemann starb früh (1987), und so blieb sie mit den drei Kindern alleine. Ein Jahr lang betrieb sie auch den Bauernhof der Familie alleine. Als sie aufgrund einer Blutvergiftung krank wurde, wollte ihr die Vormundschaftsbehörde die Kinder wegnehmen. Mit der Unterstützung ihres Hausarztes konnte Eva Kappeler für vier Wochen in die Ferien und sich erholen. Die Familie blieb zusammen.
Ihren zweiten Ehemann Alois Kappeler lernte Eva Kappeler über ein Inserat in der Zeitschrift «Tierwelt» kennen. Als sie ihn sah, wusste sie, dass sie zusammengehören. Das war 1994. Nach der Heirat zogen sie von Davos nach Wiesen, wo Alois Kappeler auf der Gemeinde nach Arbeit fragte. Er wurde weggeschickt, und am folgenden Tag stand ein Behördenvertreter vor der Tür: Alois und Eva Kappeler wurden unter Beiratschaft gestellt, die erst sechs Jahre später mithilfe eines Anwalts aufgelöst wurde. In dieser Zeit verlor Eva Kappeler ihre Lebensversicherung und alle weiteren Vermögenswerte.
Eva Kappeler kannte die Geschichte ihres Mannes, doch als sie begann, einzelne Akten zu lesen, musste sie diese immer wieder beiseitelegen, weil ihr die Tränen kamen. Sie unterstützt ihren Mann bis heute im Alltag und in der Verarbeitung des Erlebten, bei der ihn manchmal die Wut packt. Eva Kappeler kann ihn beruhigen und hört ihm zu. Für beide ist gutes Essen wichtig, denn das kannte Eva Kappelers Mann früher nicht. Die Musik verbindet sie, und so schwingen sie so oft als möglich das Tanzbein, gerne auch zusammen mit ihren Enkelkindern.
Kurt Bönzli
Zu diesen Themen spricht Kurt Bönzli:Kurt Bönzli
«Dass mein Bruder und ich heute wieder Kontakt haben, ist mir wichtig.»
Kurt Bönzli kam 1949 in Bern zur Welt. Als sein Vater starb, verlor seine Mutter die elterliche Gewalt über ihre vier Kinder. Alle wurden in der Folge fremdplatziert. Kurt Bönzli wurde, zusammen mit einer Schwester, zur Kur auf den Beatenberg geschickt und kam im Anschluss für kurze Zeit in ein Mädchenheim, in dem auch seine Schwestern waren. Danach verbrachte Kurt Bönzli die Jahre von 1957 bis 1966 in der Knabenerziehungsanstalt «Brünnen» in Bern-Bümpliz. Sein älterer Bruder, Peter Bönzli, wurde ebenfalls in diesem Heim platziert.
Priorität hatte hier die Arbeit, die Schulbildung wurde vernachlässigt. Im Heim herrschte ein harter Drill, die Knaben wurden geschlagen, und Selbstbestimmung war ein Fremdwort. Kurt flüchtete sich manchmal in eine aus Wolldecken gebastelte Hütte und zog sich für kurze Momente zurück. Seine Schwestern wohnten im nahe gelegenen Mädchenheim – manchmal konnte er ihnen über den Zaun zuwinken.
Am Ende der Schulzeit war es üblich, dass die Knaben aus «Brünnen» auf verschiedene Arbeitsstellen verteilt wurden. Kurt Bönzli wollte selber über seine Ausbildung entscheiden und konnte schliesslich eine Lehre als Koch in der Stadt Bern beginnen.
Mit 20 Jahren wurde er aus der Vormundschaft entlassen. Kurt Bönzli genoss seine Freiheit und war viel unterwegs. Köche waren gesucht, und so konnte er jederzeit die Stelle wechseln und eine neue finden. Was er nicht wollte, war, Verantwortung für andere zu übernehmen. Deshalb wollte er auch keine Kinder.
In dieser Zeit hatte er kaum Kontakt zu seinen Geschwistern. Nach einem Herzinfarkt beschloss er, sein Leben zu ändern. Er trank weniger Alkohol und suchte den Kontakt zu seinem älteren Bruder, Peter Bönzli. Diese Beziehung ist ihm wichtig, die beiden sehen sich regelmässig.
Sergio Devecchi
Zu diesen Themen spricht Sergio Devecchi:Sergio Devecchi
«Aus Scham habe ich lange geschwiegen und mich dann für die Aufarbeitung entschieden.»
10 Tage nach seiner Geburt 1947 wurde Sergio Devecchi in ein evangelisches Kinderheim in Pura im Kanton Tessin platziert. Gebet, Arbeit und Gehorsam begleiteten ihn während seiner ganzen Kindheit. Nach 12 Jahren erfolgte unvermittelt seine Umplatzierung in ein anderes Heim. Er floh mehrfach und versuchte, zu Fuss nach Pura zurückzukommen. Schliesslich versetzte ihn sein Vormund in das Kinderheim «Gott hilft» ins bündnerische Zizers. Kurz nach der Konfirmation wurde er, erneut ohne vorab informiert zu werden, von einem ihm bis dahin unbekannten Onkel wieder ins Tessin gebracht.
Hier begann Sergio Devecchi eine kaufmännische Lehre und wohnte mit 17 Jahren ohne jegliche Unterstützung der Behörden in einem Zimmer in Lugano. Er war einsam und litt immer wieder Hunger. Mit der Unterstützung von Privatpersonen und vom Verein «Christlicher Männer» ging es aufwärts. 1969 begann Sergio Devecchi ein Studium zum Sozialpädagogen in Basel. Er arbeitete danach als Erzieher und Heimleiter in verschiedenen Einrichtungen im Tessin und in der Deutschschweiz und präsidierte unter anderem den Schweizerischen Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik (Integras).
Aus Scham machte Sergio Devecchi sein Aufwachsen in Heimen erst bei seiner Pensionierung publik. Bis heute ist er beratend in seinem ehemaligen Berufsfeld tätig und engagiert sich für die gesellschaftspolitische Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen.
Brigitta Bühler
Zu diesen Themen spricht Brigitta Bühler:Brigitta Bühler
«Ich wusste lange nichts über diese dunkle Seite der Schweizer Geschichte.»
Brigitta Bühler kam 1969 in Zürich zur Welt. Sie wuchs behütet auf und denkt gerne an ihre Kindheit zurück. Nach der obligatorischen Schulzeit absolvierte sie eine Berufslehre zur Detailhandelsverkäuferin in einem Schuhgeschäft. Aus erster Ehe hat Brigitta Bühler zwei Kinder.
Ihren jetzigen Partner, Robert Blaser, lernte sie 2009 kennen. Erst nach und nach erfuhr Brigitta Bühler von den Heimplatzierungen und administrativen Versorgungen, die ihr Partner erlebt hat. Selbst kannte sie diesen Aspekt der Schweizer Geschichte nicht. Brigitta Bühler kaufte Bücher und begann sich zu informieren – was ihr nicht immer leichtfiel: Die Erfahrungsberichte gingen ihr sehr nahe.
Das Wissen über die Geschichte von Robert Blaser half ihr, gewisse Reaktionen und Eigenheiten ihres Partners besser zu verstehen. Brigitta Bühler unterstützt ihn bei seinem Engagement für den Verein «Fremdplatziert», zum Beispiel bei der Einreichung von Gesuchen für einen Beitrag aus dem Solidaritätsfonds. Immer wieder können sie Betroffene nicht zuhause anrufen oder besuchen, da diese nicht wollen, dass ihre Angehörigen davon erfahren. Das stimmt Brigitta Bühler nachdenklich und traurig. Sie rät deshalb allen Angehörigen, hinzuhören, nachzufragen und zuzuhören.
Katharina Delfino
Zu diesen Themen spricht Katharina Delfino:Katharina Delfino
«Als mein Mann über alles sprechen konnte, gewann er an innerer Ruhe.»
Katharina Delfino wurde 1964 in Zürich geboren. Zusammen mit ihren zwei älteren Brüdern erlebte sie eine sorgenfreie Kindheit. Ihre Eltern hatten ein eigenes Coiffeurgeschäft, in dem Katharina Delfino bereits früh mithalf. Sie entschied sich, ebenfalls Coiffeuse zu werden. Die Ausbildung in einer Coiffeurschule war anstrengend und von sehr langen Arbeitstagen begleitet, aber sie lernte ein dynamisches Arbeitsfeld kennen. Mit der Zeit durfte sie zu internationalen Shows mitgehen und war auch jobmässig im Ausland unterwegs, zum Beispiel in New York oder auf den Philippinen.
Nach einigen Jahren brauchte Katharina Delfino eine Pause vom Coiffeurberuf und begann, in einer Bar im Zürcher Niederdorf zu arbeiten. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann, Mario Delfino, kennen. Als sie schwanger wurde, zogen sie zusammen und heirateten. Ihr Ehemann hat ihr von Beginn weg aus seiner Kindheit bei seinen Adoptiveltern und in Heimen erzählt. Sie spürte jedoch, dass er ihr noch nicht alles erzählen konnte. Erst 2019 offenbarte ihr Mario Delfino, dass auch er ein Opfer sexueller Gewalt durch katholische Ordensbrüder war.
Zusammen mit ihrem Ehemann arbeitete Katharina Delfino während vieler Jahre gemeinsam als Hauswartin, zuerst in einem Kirchgemeindehaus, danach in einem Schulhaus in der Stadt Zürich. Ihr ist wichtig, dass Konflikte und Differenzen gemeinsam ausdiskutiert und gemeinsam Lösungen gefunden werden. Ihre Familie steht für sie immer im Mittelpunkt; alle unterstützen einander und sind immer füreinander da.
Jasmin Schweizer*
Zu diesen Themen spricht Jasmin Schweizer*:Jasmin Schweizer*
«Jedes Kind hat das Recht auf Bildung.»
Jasmin Schweizer* kam 1957 in der Stadt Zürich zur Welt. Ihre Eltern und die ganze Familie freuten sich auf den Familienzuwachs. Das Mädchen war häufig krank, kämpfte gegen Infekte und musste oft ins Kinderspital. So verpasste sie wichtigen Schulstoff, und es fiel ihr folglich zunehmend schwer, dem Schulunterricht zu folgen. Im Alter von 14 Jahren wurde Jasmin Schweizer zum ersten Mal in ein Heim in der Romandie verbracht. Ein Jahr später kam sie ins Rudolf-Steiner-Heim «Montolieux» oberhalb von Montreux (VD), in dem auch Kinder einflussreicher Eltern wohnten. Nach einem versuchten sexuellen Übergriff floh die Jugendliche. Es folgte eine erneute Platzierung in einem reformierten Töchterinstitut in Lucens.
Jasmin Schweizers mangelhafte Schulbildung erschwerte die Suche nach einem Ausbildungsplatz. 1975 begann sie eine Lehre zur Spitalgehilfin am Kantonsspital in Münsterlingen. Die Lernschwestern waren im Schwesternhaus der nahen Psychiatrischen Klinik untergebracht, wo Jasmin Schweizer gezwungen wurde, Tabletten mit starken Nebenwirkungen einzunehmen. Die umfangreichen Testreihen mit nicht zugelassenen Medikamenten erfolgten unter der Verantwortung von Chefarzt Roland Kuhn – ohne Einwilligung der Getesteten und obwohl ethische Grundsätze für medizinische Forschungen am Menschen bereits bestanden. Als Jasmin Schweizer die Einnahme verweigerte, drohte ihr der Chefarzt mit einer Zwangseinweisung. Ihr Vater holte die junge Frau nach Hause.
Zahlreiche gesundheitliche Rückschläge erschwerten ihr fortan die berufliche Tätigkeit. Jasmin Schweizer ist auch von der Krankheit Endometriose betroffen. Um andere Betroffene zu unterstützen, gründete sie eine Selbsthilfegruppe. Sie hat sich selbst weitergebildet und einen Umgang mit dem Erlebten gefunden, auch wenn es ein Kampf bleibt.
*Der Name wurde durch ein Pseudonym ersetzt.
Afra Flepp
Zu diesen Themen spricht Afra Flepp:Afra Flepp
«Man kann mit ganz wenig ganz viel auslösen, wenn es von Herzen kommt.»
Afra Flepp kam 1947 in Zürich zur Welt. Sie wurde in ihrer Kindheit mehrfach in Heimen und Pflegefamilien platziert. Zuerst in den Kanton Tessin, wo sie ein Regime des Belohnung und Bestrafung erlebte. Nach einem kurzen Aufenthalt zuhause, folgte eine Platzierung in einer Pflegefamilie im Zürcher Oberland. Die Landwirte nahmen das Kind des Kostgeldes wegen auf. Nachdem die Pflegbrüder ihr auf der Toilette nachspioniert hatten, wurde Afra Flepp erneut umplatziert, diesmal in das Stadtzürcher Pestalozziheim in Redlikon-Stäfa (ZH). Als eine der wenigen durfte sie in die öffentliche Schule im Dorf und schmuggelte manchmal Süssigkeiten ins Heim. Für das Ende der Schulzeit wurde Afra Flepp noch einmal in einer Pflegefamilie platziert.
Noch während ihrer Lehre zur Grafikerin zog Afra Flepp in ein eigenes Zimmer und machte sich nach dem Abschluss selbstständig; in den 1970er Jahren keine Selbstverständlichkeit für eine Frau. Afra Flepp arbeitete bis zu ihrer Pensionierung in ihrem Atelier in der Stadt Zürich, das bald zum Treffpunkt für die Quartierjugend wurde. Sie kamen gerne bei Afra Flepp vorbei, da hier kaum etwas verboten war und es viel zu entdecken gab.
1975 machte Afra Flepp erstmals als Künstlerin auf sich aufmerksam. Die Fassadenmalerei mit Wolken und Regenbogen am Kreuzplatz in der Stadt Zürich gab zu reden. Heute malt sie mit eine speziellen Acryl-Spritz-Technik präzise Kunstwerke.
Nadine Felix
Zu diesen Themen spricht Nadine Felix:Nadine Felix
«Hinschauen, nachfragen engagieren: Das ist heute genauso wichtig, wie es damals gewesen wäre.»
Nadine Felix kam 1975 in Zürich zur Welt. Ihre Mutter war Alkoholikerin, und als Baby überlebte sie nur, weil ihre beiden älteren Halbgeschwister für sie sorgten. Bald nach ihrer Geburt wurde sie von einem Ehepaar adoptiert. Was damals alles passiert war, erfuhr Nadine Felix jedoch erst im Alter von 35 Jahren, als sie ihre Herkunftsfamilie kennenlernte. Bis sie 14 Jahre alt war, glaubte sie, bei ihren leiblichen Eltern aufzuwachsen. Als ihre Adoptiveltern sich trennten, wurde Nadine Felix unvorbereitet und mitten im 5. Schuljahr fremdplatziert. Nach einer Zeit in Chur (GR) kam sie mit 14 Jahren ins «Heim Hirslanden» (ZH). In einem Brief der Vormundschaftsbehörde Chur erfuhr sie, dass sie als Säugling adoptiert worden war.
Nadine Felix und ihre Kolleginnen aus dem Heim hatten manchmal «Ausgang», gingen an Partys und tanzten die Nächte durch. Die Schuhe, die sie dabei anhatte, hat Nadine Felix bis heute behalten. Für ein Haushaltslehrjahr sollte Nadine Felix in ein geschlossenes Erziehungsheim gebracht werden. Gemeinsam mit ihrem Freund plante sie die Flucht nach Italien – erfolglos: In Handschellen wurde sie auf die geschlossene Abteilung des «Loryheims» (BE) gebracht. Nadine Felix wurde nie in Entscheidungsprozesse eingebunden. Nach ihren Bedürfnissen wurde sie nie gefragt, obwohl sie zahlreichen Fachpersonen begegnete und in unterschiedlichen therapeutischen Settings war.
Als ihre Vormundin starb, wurde Nadine Felix im Alter von knapp 20 Jahren aus der Vormundschaft entlassen. Sie erhielt keine Unterstützung für den Übergang in ein autonomes Leben und rutschte in die Drogensucht. Nach sieben Jahren Heroinkonsum entschied sie sich für einen Entzug. Ein Jahr später kam ihr heute erwachsener Sohn zu Welt, den sie alleine grosszog. Nadine Felix absolvierte verschiedene Ausbildungen, zuletzt zur pädagogischen Krippenleiterin. Zehn Jahre lang führte sie eine eigene Krippe. Der respektvolle Umgang mit allen Menschen ist ihr wichtig – und genauso wichtig ist es ihr, die Dinge anzusprechen, wenn der respektvolle Umgang nicht funktioniert.
Bruno Frick
Zu diesen Themen spricht Bruno Frick:Bruno Frick
«Verlässliche Beziehungen sind für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zentral.»
Bruno Frick wurde 1957 als Ältester von drei Knaben geboren. Mit seiner Familie wuchs er am Zürichsee auf. Als Leiter bei den Pfadfindern kam er zum ersten Mal in Kontakt mit Kindern, die im Jugendheim Wädenswil wohnten. Als das Heim zuging, und die Kinder und Jugendlichen an andere Orte verteilt wurden, wollte eine 14-jährige Jugendliche nicht mehr in ein Heim. Sie fragte Bruno Frick, ob sie bei ihm und seinen WG-Kollegen wohnen könne. Die zuständigen Behörden bewilligten dies und setzten ihn als Pflegevater, später als Vormund ein.
1978 begann Bruno Frick ein Studium zum Sozial- und Sonderpädagogen . Für seine Abschlussarbeit führte er Gespräche mit vielen Ehemaligen des Waisenhauses Wädenswil (ZH). Diese Arbeit und sein Studium bewirkten bei ihm ein gesellschaftskritischeres Denken, und er kam zum Schluss, dass konstante Beziehungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zentral sind. Daran hat er sich als pädagogischer Leiter der «Jugendsiedlung Utenberg» (LU), als Pflegevater und später auch als Vater von eigenen Kindern immer orientiert. Seit den 1990er-Jahren bot Bruno Frick Integrationsbegleitung mehrheitlich für junge Erwachsene ab 18 Jahren an, die das Heim, in dem er arbeitete, verliessen. Gleichzeitig führte er mit seiner Frau zusammen eine sozialpädagogische Pflegefamilie. Sechs Pflegekinder lebten vier bis 18 Jahre in seiner Familie.
Als Stiftungsrat der Guido Fluri Stiftung engagiert sich Bruno Frick seit 2014 für Anliegen von Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen und für eine breite gesellschaftliche Diskussion dieses Themas.
Sabine Weber*
Zu diesen Themen spricht Sabine Weber*:Sabine Weber*
«Mein Buch hätte den Titel gehabt: Lieben ohne geliebt zu werden.»
Sabine Weber* wurde 1954 im österreichischen Graz geboren. Sie war 10 Jahre alt, als ihre Familie in die Schweiz übersiedelte. Nach der Scheidung der Eltern blieben Sabine Weber und ihr Bruder bei der Mutter.
Nach einem Besuch zeigte Sabine Webers Vater seine Tochter beim Jugendamt an: Sie treibe sich mit Männern herum. Eine falsche Anschuldigung mit weitreichenden Konsequenzen: Die 15-jährige Sabine wurde administrativ versorgt. Bei der ersten Gelegenheit flüchtete sie aus dem Zürcher Heim Hirslanden nach Österreich zu ihren Grosseltern.
In Graz lernte Sabine Weber kurz darauf einen jungen Mann kennen. Auch er kämpfte mit einer Heimvergangenheit. Die junge Frau wurde schwanger. Beim Spitaleintritt für die Geburt unterschrieb sie alle Papiere, die ihr vorgelegt wurden. Ein Arzt wies sie jedoch kurz vor der Entbindung darauf hin, dass sie damit als unverheiratete Frau einer Adoption zustimme. Der Arzt half ihr, dies zu verhindern.
Später zog Sabine Weber zurück in die Schweiz. Sie heiratete, doch die Ehe verlief nicht gut. Heute ist Sabine Weber Rentnerin. Eine fortschreitende Augenkrankheit schränkt sie ein, gleichwohl ist sie aktiv, geniesst das Leben mit ihrem heutigen Partner und versucht, so viel als möglich selbstständig zu machen.
*Der Name wurde durch ein Pseudonym ersetzt.
Yvonne Barth
Zu diesen Themen spricht Yvonne Barth:Yvonne Barth
«Vo nüd uffe gschafft.»
Yvonne Barth kam 1953 in Basel zur Welt. Ihre Mutter zog immer wieder um und nahm ihre beiden Kinder mit. Yvonne Barth fühlte sich nicht sicher bei ihr. Im Alter von drei Jahren kam sie monateweise ins Basler Kinderheim «Vogelsang» und 1958 zu einer Pflegefamilie nach Davos Wiesen (GR). Yvonne Barth vermisste ihre ältere Schwester und bat ihre Mutter, im selben Heim wie diese platziert zu werden, was 1961 veranlasst wurde.
Im Kinderheim «Röserental» in Liestal (BL) verblieb Yvonne Barth, bis sie 12 Jahre alt war. Hier wurde sie von den anderen Kindern oft gehänselt, weil sie wegen Verwachsungen an den Füssen tapsig lief und gleichzeitig schielte. Von den Erwachsenen wurde das Mädchen nicht gefördert; aufgrund ihrer äusseren Erscheinung wurde ihr nichts zugetraut. Wichtig waren ihr in dieser Zeit Tiere: Von ihnen erhielt sie die Nähe und Zuneigung, die sie bei den Menschen vermisste.
Als Erwachsene bildete sich Yvonne Barth stets fort. Sie liess sich zur Medizinischen Masseurin ausbilden und eröffnete ihre eigene Praxis. Kraft spendete ihr stets die Musik – was bis heute so geblieben ist. Instrumente lernte Yvonne Barth immer schon rasch zu spielen, und sie komponiert bis heute eigene Lieder.
Ihr Stück «Fremdplatziert aus der Sicht jener Kinder» hat sie am Gedenkanlass für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in Basel im Herbst 2021 erstmals vor Publikum gesungen. Yvonne Barth ist es wichtig, an der Aufarbeitung mitzuwirken – auch für all jene, die nicht mehr da sind.
Andreas Jost
Zu diesen Themen spricht Andreas Jost:Andreas Jost
«Der Durst nach Gerechtigkeit treibt mich an. Dass wir sie nicht erhalten, macht mich wütend.»
Andreas Jost kam 1961 in Basel zur Welt. Als seine Eltern sich scheiden liessen, erhielt die Mutter das Sorgerecht. Sie war gewalttätig und demütigte den Knaben regelmässig. Die Vormundschaftsbehörde platzierte ihn daraufhin in einem Heim, später in zwei Pflegefamilien und in vielen Heimen. Schliesslich landete er im Jugendgefängnis, ohne dass er sich etwas zu Schulden kommen liess. In dieser Zeit hatte Andreas Jost niemanden, der ihm auf Augenhöhe begegnete, der ihn unterstützte und ihm Empathie vorlebte. Mit der Zeit liess er sich nichts mehr gefallen und scheute auch nicht vor Konfrontationen mit seinem Vormund und später mit seiner Vormundin zurück.
Mit 15 Jahren war Andreas Jost auf sich alleine gestellt. Er ging nach Bern, wo er eine Zeit lang obdachlos war und immer wieder neue Jobs annahm. Den Wert einer Ausbildung kannte er damals nicht und absolvierte deshalb keine Lehre. Die ständigen Schulwechsel führten dazu, dass Andreas Jost keinen beruflichen Weg, der seinen natürlich gegebenen Fähigkeiten entsprochen hätte, gehen konnte. Mehr und mehr machten ihm psychische Problem zu schaffen: Die Misshandlungen und Traumatisierungen in seiner Kindheit holten ihn ein, sodass er Mitte 20 nicht mehr arbeiten konnte und IV beantragte. Immer am Existenzminimum zu leben, schränkte sein Leben ein und erschwerte soziale Kontakte. Er leidet bis heute unter Albträumen und spürt die gesundheitlichen Spätfolgen der Misshandlungen.
Andreas Jost war Mitglied des «Runden Tisches für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen». Dabei scheut er sich nicht, auch Unbequemes zu äussern. Er engagiert sich insbesondere dafür, dass die Lebenssituation der Betroffenen heute verbessert wird, etwa mit einer lebenslangen Rente.
Heidi Lienberger
Zu diesen Themen spricht Heidi Lienberger:Heidi Lienberger
«Die Folgen seiner Kindheit spüren wir noch heute im Alltag.»
Heidi Lienberger kam 1958 in Liestal (BL) zur Welt. Als jüngstes von fünf Kindern wuchs sie wohlbehütet auf. Mit dem Auszug von zuhause wurde sie im Alter von 18 Jahren zum ersten Mal mit der Welt konfrontiert. Ihr erster Mann unterstützte sie dabei, ihren Lebensweg zu finden. Sie nahm verschiedene Jobs an und arbeitet heute im Service. In früheren Jahren war Heidi Lienberger sehr kreativ und verkaufte Selbstgemachtes manchmal auf einem Markt. Ihren heutigen Partner, Andreas Jost, lernte sie vor 21 Jahren kennen. Er spricht Dinge direkt an, was nicht allen gefällt. Heidi Lienberger schätzt gerade diese offene und direkte Art an Andreas Jost, jedenfalls meistens. Selber ist sie eher zurückhaltend.
Ihr Partner hat ihr von den Misshandlungen und vom erlittenen Unrecht in seiner Kindheit und Jugend erzählt und ihr alles aufgeschrieben. Sie haben viel darüber gesprochen. Heidi Leinberger ist es unbegreiflich, wie Menschen mit Schutzbefohlenen so umgehen können.
Die Folgen spüren sie beide noch heute im Alltag. Eine nicht behandelte Bronchitis als Kind, quält ihren Partner, Andreas Jost, mit Hustenanfällen. Albträume und Schlafstörungen lassen ihn nachts nicht zur Ruhe kommen. In jüngster Zeit kamen epileptische Anfälle hinzu, die Heidi Lienberger zunehmend Angst machen. Zusätzlich verunmöglichen finanzielle Einschränkungen ein selbstbestimmtes Leben und soziale Kontakte. Dies alles belastet ihre Beziehung stark und liess sie erst vor kurzem beinahe zerbrechen.
Heidi Lienberger unterstützt ihren Partner bei seinem Engagement für die Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen stark. Sie bewundert seinen Durchhaltewillen und seine Energie für diese Arbeit.
Rita Brunner
Zu diesen Themen spricht Rita Brunner:Rita Brunner
«Im Leben herrscht immer ein Gleichgewicht. Man kann nicht nehmen, ohne auch zu geben.» (Menuhin)
Rita Brunner kam 1966 in Zürich zur Welt. Ihren Vater hat sie nicht wirklich kennengelernt und ihre Mutter war mit den beiden Töchtern überfordert. Rita Brunner kam im Alter von sechs Wochen in ein Schwesternheim in Zürich und später, zusammen mit ihrer älteren Schwester, in ein privates Kinderheim in Ossingen. Das Heim wurde geschlossen, weil die Betreiber anscheinend einer Sekte angehörten.
Unter dem Vorwand, einen Ausflug zu machen, wurden die beiden Mädchen ins «Kinderdörfli Rathausen» (LU) gebracht. Rita Brunner war damals dreieinhalbjährig und verbrachte dort die kommenden zwölf Jahre. Im Heim machte sie gute und schlechte Erfahrungen, immer abhängig von den jeweiligen Erziehenden. Sie erlebte nebst Kollektivstrafen, auch psychische und körperliche Gewalt. Vor allem abends begleitete sie oft Hunger, Angst und Einsamkeit.
Nach der obligatorischen Schulzeit wurde Rita Brunner mit 15 Jahren entlassen und als Pferdepflegerin an einen Arbeitsplatz vermittelt. Der Weg in ein eigenständiges Leben fiel Rita Brunner nicht leicht. In dieser Zeit hatte sie auch oft Suizidgedanken. Dann begegnete sie zum ersten Mal einer Person, die wissen wollte, wer sie ist und was sie erlebt hatte, die ihr zuhörte und der sie vertrauen konnte. Rita Brunner entschied sich mit Mitte 20 ganz bewusst fürs Leben.
Auf ihrem Weg begegneten ihr immer wieder Menschen, die sie beruflich sowie privat förderten und unterstützten. Rita Brunner wollte anfangs keine eigene Familie, weil sie niemandem zumuten wollte, vielleicht ein Leben führen zu müssen, wie sie es hatte. Inzwischen ist sie dennoch verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Ihr Ehemann bezeichnet sie als ihr Fels in der Brandung.
Heute ist Rita Brunner Gemeinderätin und versucht in ihrer Arbeit Dinge im Kleinen positiv zu verändern. Insbesondere versucht sie zu verhindern, dass Menschen, die heute auf Unterstützung angewiesen sind, nicht in ihrer Integrität verletzt werden; ein ganz besonderes Augenmerk legt sie auf Alters- und Pflegeheime.
Mario Delfino
Zu diesen Themen spricht Mario Delfino:Mario Delfino
«Es geht mir gut – wenn nur diese Geschichten nicht wären.»
Mario Delfino wurde 1955 in Italien geboren. Die ersten fünf Jahre wuchs er in einem Waisenhaus in Bergamo auf, wo er eine liebevolle Bezugsperson hatte. Dann wurde er von einem Schweizer Ehepaar adoptiert und nach Thalwil (ZH) in deren Zuhause mitgenommen. Hier ging es ihm nicht gut: Er war oft eingesperrt und wurde geschlagen. Seine Adoptivmutter brachte den Knaben schliesslich in ein Kinderheim nach Altdorf (UR). Die Zeit dort erlebte Mario Delfino als stark von Religion, aber nicht von Gewalt geprägt. Nach vier Jahren schickten die Menzinger Ordensschwestern den Knaben zurück nach Thalwil zu seinen Adoptiveltern.
Im Alter von 12 Jahren stahl Mario Delfino zusammen mit zwei Schulkollegen eine Geldkassette. Sie fanden darin 40'000 Franken, das sie dem Besitzer jedoch mit der Post zurückschickten. Wenige Tage danach wurde Mario Delfino auf dem Schulhof verhaftet und in Handschallen abgeführt. Die kommenden vier Jahre verbrachte er in der «Erziehungsanstalt für Schwererziehbare» in Knutwil (LU). Das Heim wurde von deutschen Ordensbrüdern geleitet, die Mario Delfino und weiteren Knaben massivste körperliche und sexuelle Gewalt antaten.
Mit 16 Jahren wurde Mario Delfino 1972 aus dem Heim entlassen. Doch seine Adoptivmutter wollte ihn nicht mehr bei sich haben und rief die Polizei. Drei Wochen wartete der Jugendliche in einer Arrestzelle in Horgen (ZH), bis sich der Jugendanwalt Zeit für ihn nahm. Er hatte Mario Delfino damals nach Knutwil eingewiesen und sah nun eine erneute administrative Internierung vor. Als aber eine Sozialarbeiterin zu dem Gespräch stiess, erlebte Mario Delfino zum ersten Mal, dass sich jemand Zeit für ihn nahm, um sich seine Geschichte anzuhören. Die Sozialarbeiterin nahm Mario Delfino mit zu sich und vermittelte ihm eine Arbeitsstelle.
Später zog er nach Zürich. Mithilfe des Zürcher Obdachlosenpfarrers Ernst Sieber fand er Halt im Leben. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Katharina Delfino arbeitete er 18 Jahre lang als Hauswart in einer Zürcher Schule. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Mario Delfino ist Mitglied des Projektteams «Gesichter der Erinnerung».
Michael
Zu diesen Themen spricht Michael:Michael
«Ein Heim ist kein Daheim – und Erzieher sind keine Eltern.»
Michael kam 1964 als drittes Kind sehr junger und polytoxikomaner Eltern in Zürich zur Welt. Bis heute weiss er nicht, wie viele Geschwister er hat. Seine Grosseltern kümmerten sich um den Knaben, bis ihn die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich nach dem Tod des Grossvaters der Grossmutter wegnahm – obwohl diese ihn gerne bei sich behalten hätte. Michael wurde zunächst bei diversen Pflegefamilien untergebracht und im Alter von 9 Jahren ins Kinderheim Heizenholz in Zürich-Höngg verbracht. Er erlebte Erziehende, die auf ihn eingingen, und andere, die gewalttätig waren. Was ihm fehlte, war eine Ansprechperson, zu der er hätte gehen können, wenn er Fragen und Anliegen hatte. Auch nach der Entlassung aus dem Heim hätte er sich eine Bezugsperson gewünscht, etwa bei Geld- oder Steuerfragen.
Nach der obligatorischen Schulzeit wurde Michael mit der erneuten Internierung in ein Heim in der Westschweiz gedroht, sollte er nicht rasch eine Lehrstelle finden. Während der Ausbildung wohnte er in einem Studio und bestritt den Alltag selbstständig. 1984 wurde Michael aus der Vormundschaft entlassen. Er ging seinen Weg, fand Freunde, gründete eine Familie und erlebte Freude in seinem beruflichen Alltag. Über seine Kindheit spricht Michael offen, auch gegenüber seiner Tochter. Es ist ihm wichtig, dass er das Erlebte nicht an sie weitergibt und damit den Kreislauf der Gewalt unterbricht. Die Aufarbeitung und die Anerkennung des erlebten Unrechts schätzt er als sehr bedeutsam ein: für die Betroffenen, aber auch für die Gesellschaft.
Annemarie Iten-Kälin
Zu diesen Themen spricht Annemarie Iten-Kälin:Annemarie Iten-Kälin
«Es wird Zeit, dass auch die Geschichte des Waisenhauses Einsiedeln untersucht wird.»
Annemarie Iten-Kälin kam 1956 in Willerzell (SZ) als achtes Kind der Familie Kälin zur Welt. Zwischen sieben und acht Jahren verlor sie kurz nacheinander beide Eltern. Die Mutter an einer schweren Krankheit und der Vater nahm sich ein halbes Jahr später das Leben. Die Familie wurde auseinandergerissen, die Älteren an Arbeitsstellen vermittelt oder verdingt, und die vier Jüngeren kamen ins Waisenhaus nach Einsiedeln.
Das Heim wurde zunächst von Ingenbohler Nonnen geleitet. Ende der 1960er-Jahre wechselte die Leitung und ein Heimleiter übernahm. Die Hoffnung, dass nun mehr Raum für Lebensfreude entstehen würde, währte nur kurz. Zwar erhielten die Kinder Spielsachen, und es gab mehr Freizeit. Doch auch der Heimleiter strafte willkürlich und mit Gewalt. Darüber hinaus beging er sexuelle Übergriffe, für die er nie belangt wurde. Als durch einen Brief von Annemarie Iten-Kälin die Situation im Waisenhaus bekannt wurde und eine Aufsicht eingesetzt werden sollte, kündigte das Heimleiterehepaar. Sie gaben ihr und ihrer Schwester die Schuld dafür.
Für ihren Berufswunsch Kindergärtnerin musste Annemarie Iten-Kälin ein Praktikum absolvieren. Im Kinderheim «Klösterli» in Wettingen (AG) erlebte sie einen liebevollen Umgang mit den Kindern, was ihr zeigte, dass es auch anders geht – auch in dieser Zeit.
Während der Ausbildung im Seminar Menzingen, lernte Annemarie Iten-Kälin ihren späteren Mann kennen. Sie zog dann wieder zurück nach Einsiedeln und gründete mit ihm eine Familie. Als ihre Tochter erkrankte, begleiteten Annemarie Iten-Kälin und ihr Mann mit Sohn Michael sie bis in den Tod. Das Leben und Sterben ihrer Tochter hat sie im Buch «Stefanie, ein Engel auf Erden» festgehalten.
Nun ist ihr zweites Buch fertig. Es ist ihre Geschichte, die für so viele andere steht. Annemarie Iten-Kälin kämpft beharrlich für Gerechtigkeit, so auch dafür, dass die Geschichte des Waisenhauses Einsiedeln aufgearbeitet wird. Im Sommer 2022 ist der politische Entscheid dazu gefallen.