Beziehungen
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die Erfahrungen in Beziehungen zu anderen Menschen beeinflussen unser Wohlbefinden und unsere Sicht auf die Welt.
Vertrauen zu anderen Menschen ist das Fundament für jede Beziehung
Beziehungen zu anderen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens und Erlebens. Sie basieren auf Vertrauen. Traumatische Erfahrungen beeinflussen die Fähigkeit zur künftigen sicheren und vertrauensvollen Beziehungsgestaltung.
Um zu überleben und sich gesund entwickeln zu können, ist der Mensch in seinen ersten Lebensjahren auf den Schutz und die Nähe mindestens einer verlässlichen Bezugsperson angewiesen. Diese Rolle übernehmen in der Regel die Eltern oder ein Elternersatz. Sie helfen dem Kind, sich in einem sozialen System zugehörig zu fühlen, sich darin zurechtzufinden und anhaltende emotionale Bindungen aufzubauen. Kann diese Vertrauens- und Beziehungsbildung in frühen Jahren nicht stattfinden, prägt dieser Mangel die künftige Bindungsfähigkeit meist wesentlich. ...
Namen geben Zugehörigkeit – oder grenzen aus
Unser Name, unser Geburtsdatum und weitere Angaben zur Person bestimmen unsere amtliche Identität. Der Name wurde uns von anderen Menschen gegeben und erscheint in Dokumenten oder Bewerbungen. Nicht immer widerspiegelt er die eigene Identität – insbesondere dann, wenn damit schmerzhafte Erfahrungen verbunden sind.
In Heimen und Einrichtungen wurden viele Menschen nicht beim eigenen Namen gerufen. Sie erhielten Nummern oder wurden mit Schimpfwörtern angesprochen oder angeschrien. Einige Betroffene von Fremdplatzierungen trugen in ihrem Leben mehrere Namen. Namensänderungen durch Behörden oder Pflegeeltern kamen immer wieder vor. Einige Betroffene wählten später bewusst eigene Namen, die ihre persönliche Identität widerspiegeln. Manche erfuhren erst spät, etwa im Falle einer Adoption, dass sie einmal anders geheissen hatten. So ging es Mario Delfino. Bei seiner Heirat sah er sein Geburtszertifikat zum ersten Mal und erfuhr daraus auch die Namen seiner leiblichen Eltern im Alter von 35 Jahren.
Getrennt von der Familie und wieder zusammengeführt: Ein schwieriger Weg
Mit einer Fremdplatzierung oder administrativen Einweisung wurde der Kontakt zur Herkunftsfamilie schwieriger oder brach ganz ab. Die Wiederaufnahme familiärer Beziehungen gestaltete sich nach vielen Jahren der Trennung mitunter schwierig.
Der Kontakt zur Herkunftsfamilie wurde von platzierenden Behörden oder Organisationen lange bewusst unterbunden oder zumindest erschwert. Geschwister im selben Heim wussten teilweise nicht, dass ein Bruder oder eine Schwester ebenfalls dort platziert war. Bei einer Adoption war lange kein Kontakt zur Herkunftsfamilie vorgesehen. Die Suche nach der eigenen Herkunft trieb und treibt deshalb viele Betroffene um. So erfuhr etwa Nadine Felix erst im Alter von 14 Jahren, dass sie als Säugling adoptiert worden war. 2011 wurde sie von einem Zürcher Lokalsender kontaktiert: Ihre Halbschwester war auf der Suche nach ihr. Damit lernte Nadine Felix erst im Alter von 35 Jahren ihre leibliche Familie kennen.
Wir sprechen in diesem Film
Vertrauen ist das Fundament für jede Beziehung
Beziehungen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens und Erlebens. Sie basieren auf Vertrauen. Traumatische Erfahrungen beeinflussen die Fähigkeit zur künftigen sicheren und vertrauensvollen Beziehungsgestaltung
Um zu überleben und sich gesund entwickeln zu können, ist der Mensch in seinen ersten Lebensjahren auf den Schutz und die Nähe mindestens einer verlässlichen Bezugsperson angewiesen. Diese Rolle übernehmen in der Regel die Eltern oder ein Elternersatz. Sie helfen dem Kind, sich in einem sozialen System zugehörig zu fühlen, sich darin zurechtzufinden und anhaltende emotionale Bindungen aufzubauen. Kann diese Vertrauens- und Beziehungsbildung in frühen Jahren nicht stattfinden, prägt dieser Mangel die künftige Bindungsgestaltung meist wesentlich. ...
Bindungen in der frühen Kindheit sind prägend
Um ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln, braucht ein Mensch Wertschätzung. Daraus entsteht Vertrauen zu sich selbst und Vertrauen zu anderen Menschen. Auf dieser Grundlage lassen sich sichere Beziehungen knüpfen.
Die Bindungstheorie gehört weltweit zu einer der bedeutendsten Theorien der modernen Entwicklungspsychologie. Sie geht davon aus, dass neben dem individuellen Beziehungspotenzial jedes Menschen auch dessen Erfahrungen mit wohlwollenden Bezugspersonen in der Kindheit wichtig sind für das Bindungsverhalten und für die spätere Ausgestaltung von Freundschaft, Partnerschaft und Elternschaft.
Menschen, die als Kind vernachlässigt wurden, Gewalt oder Missbrauch durch Personen erfuhren, die für ihr Wohlergehen verantwortlich waren, haben es oft schwerer, vertrauensvolle und tragende Beziehungen aufzubauen.
Auswirkungen auf das spätere Leben
Erschreckend viele Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen haben bereits in jungen Jahren Vernachlässigung, Abwertung, Gewalt und Missbrauch erlebt. Dies ist nicht nur in der Kindheit schwer zu ertragen, sondern hat auch Einfluss auf künftige soziale, emotionale und kognitive Entwicklungen und führt zu messbarem Dauerstress. Dazu kommt, dass viele Betroffene während mehrerer Jahre von ihrer Herkunftsfamilie getrennt waren.
Eine Rückkehr oder die Wiederaufnahme familiärer Beziehungen gestaltete sich mitunter schwierig, auch weil das Erlebte in der Vergangenheit immer wieder tabuisiert wurde. Teilweise braucht es Jahrzehnte, bis wieder ein Kontakt zu Eltern und Geschwistern entstehen kann. Gleichzeitig ist die Suche nach der eigenen Herkunft wichtig für die Identitätsbildung. Das Schweigen setzte sich oft auch in Paarbeziehungen fort – aus Scham, aus Angst vor erneuter Stigmatisierung, aber auch aus Sorge, das Gegenüber mit der eigenen Geschichte zu sehr zu belasten.
Für Frauen war in der Vergangenheit oft die Heirat eine Möglichkeit, sich aus eine staatlichen Bevormundung zu lösen. Gleichzeitig wuchs die Gefahr, in eine erneute Abhängigkeit zu geraten und verbaler, körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein. Es gibt Betroffene, die sich bewusst gegen eine eigene Familie entschieden, weil sie fürchteten, ihre Kinder könnten in eine vergleichbare Situation geraten, wie sie selbst sie erlebt haben. Eine nicht ganz unberechtigte Angst: Kinder von Personen, die fürsorgerische Zwangsmassnahmen erlebt haben, sind ihrerseits oft von Fremdplatzierungen betroffen.
Die vielfältigen Spätfolgen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zeigen sich in den Beziehungen von Betroffenen auf unterschiedlichen Ebenen. So wirken sich gesundheitliche Folgen (ob psychische oder physische) stark im Alltag – in der Arbeit, im Familienleben – aus. Die daraus resultierenden Lücken etwa in der Vorsorge und die finanziellen Engpässe durch berufliche Einschränkungen führen zu einem begrenzten Gestaltungsspielraum, zum Beispiel betreffend Wohnsituation oder hinsichtlich der Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten. Solche Begrenzungen treffen sowohl die Direktbetroffenen selbst als auch ihr familiäres und soziales Umfeld.
Demgegenüber stehen stabilisierende Beziehungen und Familiensysteme. Positive Beziehungserfahrungen durch neue Bezugspersonen sind für Betroffene wichtig, um ihr Vertrauen in Beziehungen zu erhalten oder wieder aufzubauen. Nach ihrer Entlassung aus einer administrativen Versorgung, einem Heim oder aus der Vormundschaft trafen Betroffene immer wieder auf Menschen, die sie unterstützten. Zum Beispiel konnten Arbeitgeber oder Freunde einen wichtigen Beitrag in Form von Anerkennung und Vertrauen leisten.
Eine besondere Rolle kommt Lebenspartnerinnen und -partnern zu. Den Angehörigen wiederum kann das Wissen um die nicht selten traumatisierenden Erfahrungen der Betroffenen und um die Folgen davon helfen, deren Handlungsweisen und Reaktionen besser zu verstehen.