Ausbildung & Beruf
Erklärtes Ziel vieler Fürsorgemassnahmen unter Zwang war die «Erziehung» oder «Nacherziehung» zur Arbeit. Ein sozialer Aufstieg durch eine gute Bildung war dabei lange nicht vorgesehen. Die Förderung individueller Stärken kam oft zu kurz. Wer aber gefördert wurde, hatte die bessere Ausgangslage im späteren Berufsleben.
Eine Karriere war nicht vorgesehen
Das Arbeiten stand während einer administrativ verfügten Versorgung oder einer Fremdplatzierung oftmals im Vordergrund. Viele Kinder und Jugendliche erlebten deshalb eine Benachteiligung bei der Schulbildung. Ihre Talente wurden kaum gefördert.
Lange waren ihre Ausbildungsmöglichkeiten beschränkt und war lediglich unqualifizierte Arbeit in der Land- oder Hauswirtschaft für sie vorgesehen. Gegenüber Jugendlichen, die nicht in Fremdpflege aufwuchsen, erwuchs diesen jungen Menschen ein Nachteil. Um das Verpasste nachzuholen und ein selbstbestimmtes Berufsleben führen zu können, mussten die Betroffenen später grosse Anstrengungen unternehmen. ...
Individuelle Förderung musste oft hinten anstehen
Den eigenen Berufsweg selbst zu wählen, war für Fremdplatzierte lange nicht selbstverständlich. Vielmehr war die Auswahl für sie stark eingeschränkt und folgte zudem eng gefassten Geschlechterrollen, die sich nur langsam aufweichten.
Die Erziehung und Ausbildung von Mädchen entsprach lange Zeit ausschliesslich der Vorbereitung auf ein Leben als Hausfrau und Mutter, auch wenn in der Realität viele Familien auf ein zweites Einkommen angewiesen waren. Mit der Erziehung innerhalb klar definierter Geschlechterrollen warb zum Beispiel auch der Prospekt der «Mädchenerziehungsanstalt Zum Guten Hirten» um 1914 – auf der ersten Seite prominent platziert. Zwar betonte man im Prospekt, dass die jungen Frauen nach ihren Fähigkeiten gefördert würden. Um jedoch die Finanzierung dieses Heims zu sichern, «werden die meisten [jungen Frauen] zur Handarbeit verwendet». Damit wurde das zuvor formulierte Anliegen auch gleich wieder relativiert.
Nachteile im Alter
Benachteiligungen in der Ausbildung können sich nicht nur auf das spätere Berufsleben, sondern ebenfalls auf die Rente auswirken: Sie erhöhen das Risiko für Armut im Alter.
Die AHV-Rente ist abhängig von der Anzahl Jahre, die jemand einbezahlt hat. Beitragslücken führen zu einer Teilrente. Pro fehlendes Beitragsjahr erfolgt eine Kürzung von rund 2,3 Prozent. Für die Maximalrente von aktuell 2'390 Franken ist ein durchschnittlicher Jahreslohn von etwas über 86'000 Franken notwendig. Die Minimalrente beläuft sich auf monatlich 1'195 Franken. Reicht eine Rente nicht aus zum Leben, können Ergänzungsleistungen beantragt werden. Viele Betroffene tun dies nicht – aus Angst, erneut vom Staat abhängig zu sein.
Wir sprechen in diesem Film
Eine Karriere war nicht vorgesehen
Die Arbeit stand während einer administrativ verfügten Versorgung oder einer Fremdplatzierung oftmals im Vordergrund. Viele Kinder und Jugendliche erlebten deshalb eine Benachteiligung bei der Schulbildung. Ihre Talente wurden kaum gefördert.
Lange waren ihre Ausbildungsmöglichkeiten beschränkt und war lediglich unqualifizierte Arbeit in der Land- oder Hauswirtschaft für sie vorgesehen. Gegenüber Jugendlichen, die nicht in Fremdpflege aufwuchsen, erwuchs diesen jungen Menschen ein Nachteil. Um das Verpasste nachzuholen und ein selbstbestimmtes Berufsleben führen zu können, mussten die Betroffenen später grosse Anstrengungen unternehmen.
Arbeit und Ausbildung
Der Alltag während einer Fremdplatzierung war lange hauptsächlich von Arbeit geprägt. Ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene: Alle wurden zur Arbeit herangezogen, viele Einrichtungen verfügten über einen Landwirtschaftsbetrieb oder einen grossen Garten sowie angegliederte Werkstätten. Manche wurden zur Fabrikarbeit herangezogen. Schule und Ausbildung wurden indes vernachlässigt. So fiel der Schulbesuch beispielsweise während der Erntezeit oft aus.
Und weil ein gesellschaftlicher Aufstieg durch Bildung für die Internierten gar nicht vorgesehen war, blieb es meistens bei der obligatorischen Schulzeit. Fremdplatzierte Kinder sollten später als Knechte, Mägde und Hilfsarbeiter tätig sein. In der Zwischenkriegszeit begannen die Einrichtungen zwar, auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren und schrittweise Berufslehren einzuführen. Die Wahlmöglichkeiten blieben aber beschränkt und orientierten sich an geschlechterspezifischen Berufsbildern. Junge Männer wurden etwa als Gärtner, Schlosser oder Schreiner ausgebildet, während junge Frauen Lehren als Glätterinnen oder Wäscherinnen offenstanden.
Kinder und Jugendliche kamen oft zu Bauernfamilien in Pflege, wo sie bereits im Kindesalter als Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Bis weit ins 20. Jahrhundert gab es in der Landwirtschaft kaum Maschinen als Hilfsmittel, und entsprechend gross war die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften. In einigen Regionen wurden diese Kinder «Verdingkinder» oder «Kostkinder» genannt. Ihnen boten sich nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit meistens kaum Ausbildungsmöglichkeiten. Berufslehren kosteten lange Zeit Geld, sodass sie bei fehlenden finanziellen Ressourcen nicht möglich waren. Erst im Verlauf der 1970er-Jahre wurden die Ausbildungsmöglichkeiten breiter, und auch der Zugang zu einer höheren oder selbst gewählten Ausbildung war eher möglich. Junge Frauen konnten nun auch Berufe erlernen, die bisher Männern vorbehalten waren, und gewisse Einrichtungen erlaubten sogar externe Ausbildungen.
Vielfältige Berufsbiografien nach dem Ende der Fremdplatzierung
Die beruflichen Wege von Menschen, die Fürsorgemassnahmen unter Zwang und Fremdplatzierungen erlebt haben, sind sehr unterschiedlich und vielfältig. Gemeinsam ist fast allen, dass sie aufgrund der mangelnden Schul- und Berufsbildung mit besonderen Schwierigkeiten im Berufsleben konfrontiert waren. Aus Angst vor Stigmatisierungen erstellten viele von ihnen unvollständige oder falsche Lebensläufe; niemand sollte erfahren, wo sie aufgewachsen waren.
Nach Jahren der Fremdbestimmung strebten die meisten Betroffenen im Berufsleben nach Autonomie. Sofern es die finanziellen Möglichkeiten zuliessen, versuchten sie, die verpasste Ausbildung nachzuholen, begannen Berufslehren, besuchten Weiterbildungen oder fingen ein Studium an. Damit wollten sie ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern und die berufliche und soziale Integration schaffen. Besonders wichtig konnte dabei die Förderung und Unterstützung durch Vorgesetzte und Berufskollegen sein.
Aufgrund der Stigmatisierung, fehlender Ausbildung und gesundheitlicher Folgen der erlittenen Traumata blieb jedoch vielen der beruflichen Aufstieg verwehrt. Schlecht bezahlte Arbeit, unsichere Arbeitsverhältnisse und Lücken in der Vorsorge waren die Folge. Das wirkte sich bis ins hohe Alter aus: Tiefe Löhne führen zu tiefen Renten, sodass zahlreiche Betroffene nach dem Ende ihrer beruflichen Laufbahn in prekären Verhältnissen leben mussten und noch immer müssen. Kommt hinzu: Aus Misstrauen und Angst vor einer erneuter Abhängigkeit vom Staat wollen viele keine Ergänzungsleistungen in Anspruch nehmen.